Das Hexenkreuz
Blätter von den Bäumen
rupften, bestand sein Glanzstück aus einem herrlichen, schneeweißen Tiger. Das
Tier lag auf einer weitläufigen, von einem hohen eisernen Zaun umgebenen Wiese unter
einer ausladenden Platane und döste. Bei ihrem Näherkommen hob die große Katze
kurz den Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte Emilia die leuchtend
blauen Augen des Raubtieres auf sich ruhen. „Es handelt sich um ein Weibchen,
ein Geschenk des Maharadschas von Jaipur“, erklärte Bramante. „Weiße Tiger sind
extrem selten. Ist sie nicht einmalig, ein vollkommenes Meisterwerk der
Natur?“, schwärmte Bramante. Auf seinem Gesicht zeigte sich der Ausdruck von
Verzückung. Emilia sah ihn erstaunt von der Seite an. Bramante schien ihr
Befremden zu spüren. Er nahm ihre Hand und zwang sie, ihn anzusehen.
„Habt Ihr es
bemerkt? Diese Tigerin besitzt exakt Eure Augen! Das ist mir gleich bei unserer
ersten Begegnung aufgefallen. Ihr beide seid von der gleichen Art, Emilia. Ihr
seid wie dieser Tiger: Stolz, wild und unberechenbar…“ Er hielt kurz inne, dann
murmelte er: „Aber seid Ihr auch ebenso unbezähmbar?“ Er hatte ihre Hand nach
oben gedreht und strich mit dem Daumen über ihre Handfläche. Seine stechenden
schwarzen Augen senkten sich in ihre. Emilia fühlte sich von einer jähen
Schwäche befallen. Ausgehend von ihrer Hand, jagten angenehme Impulse durch
ihren Körper. Hitze stieg in ihr auf und löste das jähe Bedürfnis in ihr aus,
sich die Kleider vom Leib zu reißen und sich mit Bramante wie ein brünstiges
Tier im Gras zu wälzen. So sehr ihr Leib entflammt war und sie die Vorstellung
verlockte, etwas stimmte nicht an diesem Bild. Plötzlich drang die Erkenntnis
zu ihr durch. Ebenso wie Ferrantes Mutter und Beatrice schien Bramante die
Macht seiner Augen zu nutzen. Kraft der Hypnotik versuchte er, sie unter sein
Joch zu zwingen. Mit schier übermenschlicher Kraft hob Emilia ihre Hand zum
Hals und umfasste Serafinas Kreuz, das sie wieder offen trug. Im selben Moment
sprang die Tigerin auf und stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. Bramante
blinzelte und ließ von ihr ab. Emilia entschied sich so zu tun, als hätte sie Bramantes
Vorhaben nicht bemerkt. „Wie heißt sie?“, erkundigte sie sich, um Zeit zu
gewinnen und ihre temporäre Verwirrung abzuschütteln.
„Morgane“,
erwiderte der Graf langsam. Emilia beobachtete ihn durch ihre gesenkten Lider.
Sie konnte an ihm nicht den Hauch von Enttäuschung feststellen. Dabei hatte er
kurz davor gestanden, ihr seinen Willen aufzuzwingen.
„Ist der
Name einer keltischen Zauberin nicht ungewöhnlich für einen indischen Tiger?“,
erkundigte sie sich nun.
„Warum? Ist
Morgane nicht die faszinierendste Gestalt der Artussage? Niemand vermag genau zu
sagen, ob ihre Handlungen den Tod ihres Halbbruders Artus´ herbeiführten. Wer
weiß, vielleicht wollte sie ihm sogar helfen und brachte nur deshalb die
tragischen Ereignisse in Gang? Die Frage lautet daher: War Morgane gut oder
böse? Gerade im Unberechenbaren liegt das Geheimnis der menschlichen Natur,
findet Ihr nicht auch? Im Übrigen muss Morgane eine sehr schöne Frau gewesen
sein, denn die Geschichte erinnert sich kaum der hässlichen. Immer geht es nur
um die Schönsten, wie Helena von Troja oder Kleopatra, die zwei der stolzesten
Römer, Cäsar und Marcus Antonius, unterjochte. Ganze Völker haben sich
jahrelang wegen dieser beiden Frauen bekriegt. Da die Männer ihretwegen den
Kopf verloren, fügte man diesen Frauen das Attribut der Zauberin bei. Ist es
nicht entlarvend, wie einfach die Logik des Mannes funktioniert? Wenn wir schwach sind, dann liegt es nicht an uns, sondern an der Frau . Also muss
sie eine Zauberin sein, ein verdorbenes Wesen, das uns in ihr verlockendes Netz
spinnt. Die Kirche bedient sich seit jeher dieser Version, um den Kopf der Frau
niedrig zu halten und sie auf ihren Platz zu Füßen der Männer zu verweisen.
Wurdet nicht auch Ihr gegen Euren Willen - doch mit dem Segen der Kirche - mit
dem Herzog von Pescara verheiratet? Hegt Ihr darüber keinen Groll gegen Mutter
Kirche?“
Der
ungewöhnliche Verlauf des Dialogs weckte Emilias Argwohn. Warum interessierte
sich der Graf für ihre Ansichten über die Kirche und lenkte das Gespräch in
diese Richtung? Plötzlich kannte sie die Antwort: Er wusste von der
Prophezeiung! Darum ging es also. Auch er wollte sich ihrer als Werkzeug
bedienen. Emilia seufzte voller Überdruss. Sie hatte es gründlich satt
Spielball von
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