Das Hexenkreuz
politischen Interessen sein. „Nanu, Herr Graf? Ihr als Verfechter
der Rechte der Frauen?“, umging sie seine rhetorische Falle. „Erlaubt, dass ich
Euch das nicht abkaufe. Denn Ihr seid nicht besser. Auch Ihr behandelt mich als
ein Wesen ohne jegliche Rechte. Habt Ihr mich nicht unter Vorspiegelung
falscher Tatsachen hierhergebracht und wollt nun von mir die Entscheidung
erzwingen, die Eure zu werden? Seht Euch die Tigerin Morgane an, deren
Schönheit Ihr so sehr bewundert. Sehr glücklich scheint sie mir nicht zu sein.
Meint Ihr, es gefällt ihr, eingesperrt zu sein? Entspräche es nicht vielmehr
ihrer Natur, über die weiten Steppen Indiens zu jagen? Auch meiner Natur
entspricht es nicht, eingesperrt zu sein. Ich habe endgültig genug, von Euch
und Euren Ränkespielen. Macht doch mit meinem Leben, was Ihr wollt, es scheint
mir ja sowieso nicht zu gehören. Ohne Freiheit gilt mir mein Leben nichts!“
Entgegen ihres Planes, sich sanft und nachgiebig zu geben, hatte sich Emilia
wieder einmal so richtig in Rage geredet. Mit hochrotem Kopf, ohne die Reaktion
des Grafen abzuwarten, raffte sie ihre Röcke und lief über den Rasen davon. Der
Graf sah ihrer schmalen Gestalt aufmerksam nach. Auch die Tigerin Morgane hatte
sich erhoben und blickte der jungen Frau mit unergründlichen Augen hinterher.
Die hoch stehende Sonne spiegelte sich darin wie blaues Feuer.
Am Abend klopfte Conradin an ihr Zimmer, um sie zum Abendmahl
zu geleiten. Emilia beschied ihm, dass sie es vorzog, allein auf ihrem Zimmer
zu speisen. Wenige Minuten später brachte ihr ein Diener ein reichhaltiges Tablett.
Wortlos stellte er es auf dem Ebenholztisch vor dem Kamin ab und zog sich
ebenso leise zurück. Kaum war er weg, sprang Emilia auf, schob entschlossen
einen Sessel bis zur Tür und klemmte ihn unter dem Knauf ein. Mit der Tür zum
Patio verfuhr sie auf die gleiche Weise. Natürlich war ihr bewusst, dass diese
Maßnahmen ziemlich wirkungslos waren, denn beide Türen waren durch einen
entschlossenen Stiefel rasch eingetreten. Wichtiger erschien ihr das Signal, das
sie dem Grafen damit gab: Ihre Kampfansage an ihn. Sie hatte beschlossen, wenn
sie schon seine Gefangene war, dann unter ihren eigenen Bedingungen.
Sie trat zu
dem Tablett und hob den Deckel einer der Schüsseln an. Der liebliche Duft nach
Tagliatelle mit Trüffeln stieg ihr in die Nase, weitere Schüsseln enthielten
Risotto mit grünem Spargel, Lammbraten im Rosmarinmantel, in Rotwein eingelegte
Feigen und auf einem Teller lag frische Honigmelone. Dazu ein Krug gekühlter
Frascati und ein Krug Wasser. Die nächsten Tage würde sie jedenfalls nicht
hungern. Leider schien allein die Aussicht, eventuell hungern zu müssen, ihren
Appetit besonders anzuregen.
Während sie
vor dem Marmorkamin saß und Melone naschte, kam ihr eine Idee. Sie erhob sich
und inspizierte die Beschaffenheit des Kamins genauer. Ungeachtet dessen, ihr
Kleid damit zu ruinieren, stieg Emilia hinein und sah prüfend nach oben. Der
Schacht wuchs weit in die Höhe und schien sich nach oben hin zu verjüngen. Als gute
Kletterin zeigte sie sich zuversichtlich, dass ihr Vorhaben gelingen konnte.
Sie würde es wagen. Die Frage, wie sie vom Dach hinunter in den Garten gelänge,
um dann ungesehen das Grundstück zu verlassen, verschob sie auf später. Sie
würde die Probleme in der Reihenfolge lösen, wie sie auftraten. Sie durchwühlte
zunächst ihre Kleiderkammer nach einer entsprechenden Garderobe für den
Fluchtversuch. Schließlich entschied sie sich für ein schwarzes Satinkleid, dem
sie den cremefarbenen Spitzenkragen entfernte. Mit Hilfe eines schwarzen Schals
schnürte sie ein Bündel mit einem weiteren Kleid aus leichter brauner Wolle. Ohne
den goldenen Gürtel wirkte es relativ einfach. Sie zog den kleinen
Metallbehälter mit der Schatzkarte aus seinem Versteck im Saum des Bettvorhanges
und schob ihn in ihren Ausschnitt. Schließlich verhielt sie vor der Schmuckschatulle.
Kurz zögerte sie, dann griff sie sich entschlossen eine Handvoll des sprühenden
Feuers. Anschließend schlang sie sich ihr improvisiertes Gepäck mit Hilfe eines
weiteren Schals um den Hals. Sodann machte sie sich an den Aufstieg. Mit Händen
und Füßen im Schacht eingespreizt, kämpfte sie sich mühsam nach oben. Der Ruß
reizte ihre Lunge, doch tapfer unterdrückte sie den Drang zu husten; der
Kaminschacht würde jeden Laut um ein Vielfaches verstärken. Bei der Hälfte
ungefähr hielt sie kurz inne, um zu verschnaufen. Da geschah es:
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