Das Hexenkreuz
Eine Sekunde
der Unachtsamkeit und sie rutschte an einem lockeren Ziegel ab. Gerade noch
rechtzeitig fing sie sich. Noch vorsichtiger als zuvor kletterte sie weiter. Sie
trennten kaum mehr zwei Meter vom rettenden Ausstieg, als ihr Aufstieg ins
Stocken geriet. Der Schacht hatte sich inzwischen soweit verjüngt, dass ihre
Schultern gegen die Mauern schrammten. Verzweifelt klammerte sie sich fest und
versuchte, sich weiter nach oben zu pressen. Die Sekunde, in der sie begriff,
dass sie sich nicht durch die schmale Luke würde winden können, war niederschmetternd.
Und sie musste wieder nach unten! Dabei zitterten ihre Arme und Beine längst
von der Anstrengung. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich fallen zu lassen,
doch das hieße, das Spiel aufgeben. Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte
sich Stück für Stück nach unten. Ihre Hände brannten wie Feuer. Der Gedanke,
erneut an den letzten Metern zu scheitern, mobilisierte ihre letzten Kräfte.
Sie zwang sich, nur noch von einem Schritt zum nächsten zu denken. Am Ende rutschte
sie ab und landete unsanft auf dem Allerwertesten. Tatsächlich hatte sie kaum
mehr ein Meter vom rettenden Boden getrennt. Da klopfte es vernehmlich und Conradin
sagte: „Duchessa, der Graf lässt durch mich fragen, ob Ihr ihm vielleicht nicht
doch im Salon Gesellschaft leisten möchtet? Der Kaffee wird eben serviert.“ Sie
blickte an ihrem verrußten Kleid hinab und inspizierte ihre zerschundenen,
geschwärzten Hände. Sie sah aus wie ein Kaminfeger nach einem arbeitsreichen
Tag. Den geschniegelten Conradin mit seiner streng gescheitelten Perücke und
blütenreinen Livree würde vermutlich der Schlag treffen, wenn er sie so sähe.
Der Gedanke erheiterte sie so sehr, dass sie in ein herzhaftes Lachen ausbrach.
Kaum wieder zu Atem gekommen, lehnte sie sein Angebot höflich ab. Danach wusch
und säuberte sie gründlich ihre Wunden. Sie bestrich sie reichlich mit einer
sahnigen Creme aus einem Fayencetöpfchen, die eigentlich zur Pflege ihres
Gesichts gedacht war. Was war schon ein gescheiterter Versuch? Sie würde eine
andere Möglichkeit finden. Zudem hielt sie Bramante - im Gegensatz zu Beatrice
- für den leichteren Gegner. Angefüllt mit neuer Zuversicht schlief sie ein.
Im Salon gönnte sich Graf Bramante eine Pfeife, deren Tabak
seine Handelsschiffe aus dem fernen Virginia herbeiholten. Mit Genuss sog er
daran und blickte den blauen Rauchkringel sinnierend hinterher. Er vernahm die
Schritte seines Majordomus hinter sich. „Nun, Conradin, alter Freund“,
erkundigte sich Bramante jovial, da sich die Dinge ganz in seinem Sinne
entwickelten. „Was treibt unsere schöne Herzogin so ganz allein auf ihrem
Zimmer?“
„Sie lacht,
Euer Gnaden“, erwiderte Conradin steif und servierte den Kaffee. Er zog sich
rasch zurück, bevor sein Herr ihm weitere Fragen stellen konnte.
Emilia erwachte erfrischt und mit klarem Kopf. Im ersten
Licht des Tages erschien ihr die Idee mit dem Hungerstreik kaum eine
wirkungsvolle Maßnahme, einem Bramante die Stirn zu bieten - vor allem, da der
Patio mit seiner morgendlichen Frische zu einem Spaziergang verlockte. Sie warf
sich einen leichten Frisiermantel über, schob die Sessel wieder an ihren Platz
zurück und trat hinaus. Erneut nahm sie das wundersame Schauspiel der
aufgehenden Sonne gefangen. Ihr Gesicht dem Himmel zugewandt, nahm sie seine
Huldigung entgegen. Hinter sich spürte sie eine leichte Bewegung. „Oh, Ihr seid
schon wach, Herzogin?“, rief ihre junge Zofe erschrocken aus, als hätte sie ein
Versäumnis begangen.
„Ja, ist
dieser Morgen nicht herrlich? Kommt, begleitet mich einige Schritte.“
Schüchtern trat das Mädchen neben sie.
Eine Weile
wanderten sie stumm nebeneinander her. Am kleinen Seerosenteich sank Emilia auf
eine der steinernen Bänke. Sie deutete neben sich. „Setzt dich doch zu mir.“ Emilia
benutzte absichtlich das du, um mehr Vertraulichkeit zu schaffen.
„Aber, dies
ist mir nicht gestattet…“, stotterte die Kleine von ihrem Ansinnen vollkommen
überrascht.
„Warum
nicht, wenn ich es dir doch erlaube? Ich möchte mich mit dir unterhalten. Nimm
also Platz, sei so gut.“
Nur äußerst
zögerlich gehorchte das junge Mädchen. Verkrampft verharrte sie auf der
äußersten Kante, Hände und Knie eng aneinandergepresst.
„Wie lange
stehst du schon in Diensten des Grafen?“, begann Emilia freundlich.
Das Mädchen
biss sich auf die Unterlippe und erwiderte kaum hörbar: „Ich bin hier
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