Das Hexenmal: Roman (German Edition)
seine Eltern während dieser Zeit nur zweimal. Bei diesen seltenen Besuchen führte sein erster Weg immer zu den Arnolds, um Anna zu sehen. Beide hatten sich stets freudig begrüßt, und Anna hatte ihn jedes Mal gefragt: »Hast du den Drachen gefunden?«
Und nickend hatte Friedrich geantwortet: »Sobald er schläft, stehle ich ihm eine Schuppe. Hast du mir ein Lied gewidmet?«
»Es fehlen nur noch drei Wörter.« Sie lachten dann herzlich und freuten sich über das Wiedersehen. Dieses Geplänkel aus Kindertagen aber war das einzige Band ihrer Zuneigung. Über mehr wurde nie gesprochen.
Als Friedrich in Leipzig die Nachricht vom Mord an den Arnolds erhielt, war ein anderer in Annas schwerster Stunde an ihrer Seite gewesen und hatte sie anschließend zum Altar geführt.
Friedrich seufzte. Seit seiner Rückkehr hatte er Anna nur einmal aufgesucht, um ihr zur Heirat zu gratulieren. Danach vermied er jegliches Zusammentreffen. Auch heute wollte er nicht kommen, doch als sie nach einem Arzt schickte, war sein Vater nicht in der Stadt gewesen, und Friedrich, der sich um Anna sorgte, war statt des alten Arztes gekommen.
Nun sah Anna zu Friedrich, der jeglichen Blickkontakt mit ihr vermied, empor und sagte: »Es ist schön, dass wir uns wiedersehen, Friedrich.«
Erstaunt sah er sie an, nickte dann lächelnd, ohne zu antworten. Erst, als er seine Instrumente wieder in die Tasche packte, fragte er, ohne sie anzusehen: »Könnte es sein, Anna, dass du guter Hoffnung bist?«
Zuerst schaute die junge Frau erstaunt, doch dann prustete sie laut los.
»Und das schlägt mir auf die Stimme, sodass ich nicht mehr singen kann? Wo es doch ein Grund zum Jubilieren wäre.«
Verlegen lächelnd zuckte der Arzt mit den Schultern, dann meinte er: »Vielleicht brauchen deine Stimme und du nur etwas Ruhe. Bleib ein, zwei Tage im Bett. Das tut dir sicher gut.«
»Keine Salbe zum Einreiben und keine Tropfen, die ich schlucken kann?«
»Ach, Anna, was soll ich dir geben? Gegen was soll ich dir Medizin verabreichen?« Zögerlich antwortete sie: »Vielleicht etwas gegen ein freudloses Leben …« Verlegen strich sie die Bettdecke glatt. Doch der junge Arzt hatte Tränen in ihren Augen schimmern sehen, sodass er sich die Freiheit nahm, sie nach ihrem Eheleben zu fragen.
»Liebst du deinen Mann nicht mehr?«
Unbehaglich rutschte sie in ihrem Bett hin und her, um dann zaghaft zurückzufragen: »Was ist Liebe, und woran erkennt man sie? Wann weiß man, ob man sie je besessen hat, um sagen zu können, dass man sie verloren hat?«
Betretenes Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, doch dann sah Anna Friedrich fest in die Augen und erklärte: »Wilhelm rührt mich schon seit Monaten nicht mehr an. Seine Blicke sind abweisend, auch seine Sprache. Nicht ein Wort, das Zärtlichkeit oder Zuneigung ausdrückt. Nur Zurechtweisung und Vorhaltungen. Auch verbietet er mir das Singen, weil er keinen Gefallen daran findet. Ist es möglich, dass man sich so sehr in einem Menschen täuschen kann, Friedrich?«
Mit großen blauen Augen sah sie ihren Jugendfreund an.
»Anna, ich will nicht wissen, ob er dich liebt, sondern wie dein Gefühl für ihn ist.«
»Ich weiß nicht einmal, ob es je Gefühle für ihn gegeben hat. Vielleicht habe ich Dankbarkeit mit Zuneigung verwechselt.«
In Gedanken fragte Friedrich sie, ob Münzbacher ihr eine Drachenschuppe am Tag der Hochzeit gebracht hatte. Doch er sprach es nicht laut aus, sondern räusperte sich kurz und setzte sich zu der jungen Frau auf die Bettkante. Er ergriff ihre Hand, nahm all seinen Mut zusammen und sagte: »Anna, was ich dir jetzt sage, ist meine persönliche Meinung, und ich hoffe, dass du es mir nicht verübelst, wenn ich sie ausspreche. Niemand kann dir den Vater und die Mutter ersetzen. Dass du damals annahmst, diese Leere würde dein Ehemann ausfüllen können … Nun, mittlerweile wirst du wissen, dass es ein Trugschluss war. Wenn du kein Kind erwartest – wie soll ich es ausdrücken -, vielleicht will unser Herrgott dir damit zeigen, dass man die Dinge noch ändern könnte, bevor es zu spät ist …«
Friedrich hielt für einen Moment die Luft an, fürchtete er doch, dass sie ihn zurechtweisen würde. Aber ihr Blick wurde nachdenklich und traurig. Dann nickte sie stumm.
Alles in Friedrich sträubte sich, so viel Vertrauliches von Anna zu erfahren. Er ahnte, dass das, was sie ihm erzählt hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach der Schlüssel für ihre Beschwerden war. Ihr Geständnis,
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