Das Hiroshima-Tor
Atomkraftgegnerin
ihren Wohnort so dicht an einem Atomkraftwerk?
|48| Doktor Heli Larva hatte Theoretische und Experimentelle Kernphysik an der TH Helsinki studiert und ihr Studium mit herausragenden
Noten abgeschlossen. Anschließend hatte sie eine Dissertation über Kernenergie und die Sicherheit von Reaktoren geschrieben.
Sie war am Institut geblieben und hatte Seminare gegeben. An einem hatte auch Soile teilgenommen. Die Technische Hochschule
arbeitete eng zusammen mit dem CERN, dem Europäischen Institut für Teilchenforschung, an dem Soile arbeitete. Auch Heli Larva
war eine Zeit lang dort gewesen, damals, als sie an ihrer Dissertation schrieb.
Die superintelligente junge Frau hatte sich in jenen Jahren vollkommen ihrer Arbeit gewidmet. Zu vollkommen. Ihr Ehrgeiz war
einer Zwanghaftigkeit gewichen, die ihrer Psyche alles andere als gut getan hatte. Ein Arbeits- oder Forschungsvertrag wurde
ihr nicht angeboten.
Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, schwand die Begeisterung für ihre Arbeit nicht. Weil sie diese aber auf dem offziellen
Weg nicht ausleben konnte, war sie in der Anti-Atom-Bewegung aktiv geworden. Dort hatte man sie mit ihrer Kompetenz und ihren
argumentativen Fähigkeiten umstandslos willkommen geheißen. Heli Larva verfolgte die Forschung auf ihrem Fachgebiet genau,
und ihre Schriften waren stets absolut fehlerfrei.
Timo nahm die Abkürzung durch den dunklen Wald zu Heli Larvas Haus. Er ging um den kleinen Hügel herum, unter dem sich ein
traditioneller Erdkeller verbarg. Neben dessen Tür waren leere Holzkisten aufgestapelt. Sie hatten wahrscheinlich die Ernte
von dem Ackerstreifen enthalten, den Heli selbst bewirtschaftete.
Er kam an dem Holzschuppen vorbei, wo eine enorme Menge Brennholz fein säuberlich aufgestapelt war. Davor lehnte ein altes,
gepflegt wirkendes Damenfahrrad. Das Holzhaus schrie nach Farbe, schien sonst aber in Schuss zu sein. Durch den Vorhangspalt
des Fensters auf der Giebelseite fiel Licht.
Timo blieb stehen. Etwas an der Atmosphäre des Ortes ließ ihn unruhig werden.
Zum ersten Mal zögerte er. Was, wenn Heli Larva von den |49| Anschlägen auf Olkiluoto nichts wusste? Auch das war möglich. Aber so klein, wie die Kreise in einem Land wie Finnland waren,
konnte ihr durchaus etwas zu Ohren gekommen sein. Selbst wenn das Vorhaben vom Ausland aus gelenkt wurde, brauchte man Finnen,
um es in die Tat umzusetzen.
Die Lichter des Atomkraftwerks waren vom Haus aus noch besser zu sehen als weiter unten vom Wald. Timo wollte erst gar nicht
den Versuch machen, sich heimlich zu nähern. Aber der Vorhangspalt zog ihn an, und als er die Hausecke erreicht hatte, trat
er an das Fenster und spähte hinein. Er zuckte zusammen. Unmittelbar vor ihm, nur durch die Scheibe getrennt, sah er das konzentrierte
Gesicht der Frau, von einer schwachen Schreibtischlampe matt von der Seite beleuchtet. Von vorn fiel der Schein des Computerbildschirms
auf ihr Gesicht. Erschrocken wich Timo ein Stück zurück.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, trat er noch einmal ans Fenster heran. Heli Larva tippte etwas und sah dabei auf den
Bildschirm. Timo betrachtete das schmale Gesicht, in dem intelligente nussbraune Augen funkelten. Die gesamte Augenpartie
wirkte dunkel, das vermittelte den Eindruck von Schwermut, der durch das schiefe Lächeln der Lippen noch vertieft wurde. Die
schwarzen Haare waren noch kürzer geschnitten als früher. Die Frau strahlte Willenskraft aus.
Timo mochte eigentlich kein Voyeur sein, aber in dieser Situation glaubte er, das volle Recht darauf zu besitzen. Er ging
um die Ecke herum zur Tür und klopfte, ohne zu zögern, an.
Stille.
»Wer ist da?«, rief eine schroffe Frauenstimme von drinnen.
»Timo Nortamo.«
Wieder Stille. Timo bereute allmählich sein Kommen.
Da rasselte das Schloss, und die Tür ging einen Spalt weit auf.
»Was machst du denn hier?«, fragte Heli Larva und kniff die Augen zusammen. Sie wirkte kein bisschen erschrocken – eher überrascht.
»Du weißt, worum es geht.«
|50| »Ich dachte, du bist nach Brüssel gegangen.«
Timo spürte den starken Duft von ätherischen Ölen in der Nase. Heli Larva war klein, schlank und sehr selbstsicher. Sie trug
ein Sweatshirt mit WW F-Aufdruck , Jeans und altmodische Altmännerpantoffeln.
»Ich bin zu Besuch in Finnland.«
»Das sehe ich.«
»Darf ich reinkommen?«
Sie sah Timo so intensiv in die Augen, dass er gezwungen war, den Blick
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