Das Hiroshima-Tor
Antiquitätengeschäft, das ihm schon unzählige Male aufgefallen war, in das er es aber noch
nie geschafft hatte. An der nächsten Haltestelle ging er – einer plötzlichen Eingebung folgend – zur Tür und stieg aus. Dabei
hatte er für den Bruchteil einer Sekunde ein sonderbares Gefühl von Freiheit: Er könnte hingehen, wo er wollte und wann er
wollte, frei von Uhr und Kalender. Er versuchte das Gefühl festzuhalten, aber da wurde es schon wieder vom Gedanken an Wilson,
an die Bank und den Notar erstickt.
Der Laden mit dem Namen
1900
war interessanter, als er erwartet hatte. Es gab dort reichlich Auswahl und die Sachen waren nicht übermäßig teuer. Timo drehte
lange einen schönen Füllfederhalter aus den 1910er Jahren in den Händen hin und her. Die Ironie der Situation veranlasste
ihn zu einem melancholischen Lächeln. Jetzt hatte er endlich Zeit für sein Hobby, aber kein Geld mehr dafür.
Er stellte fest, dass er das Inventar des Ladens mit anderen Augen betrachtete als zuvor: wie wurde der Raum genutzt, wie
waren die Gegenstände arrangiert, wie war die Beleuchtung. Hätte er die Chance, aus seinem Hobby einen Beruf zu machen?
Jedenfalls keinen so einträglichen Beruf, dass damit der Kredit für das Haus abbezahlt werden könnte. Trotzdem – allein bei
dem Gedanken an die Möglichkeit juckte es ihn in den Fingern. Seine Mutter besaß einen An- und Verkauf-Laden in Porvoo. Dort
hatte Timo ab und zu ausgeholfen und, im Nachhinein betrachtet, dabei seinen Spaß gehabt.
Als Timo das Geschäft verließ, war er besserer Stimmung als beim Eintreten. Die Welt war voller Möglichkeiten. Wie leicht
konnte man bei irgendetwas hängenbleiben, das sich eigentlich nur zufällig ergeben hatte.
|127| Er ging zu Fuß weiter und versuchte dabei, seine Zukunft rational zu kartieren, aber es zog seine Gedanken immer wieder zu
dem Material aus der Seine. Er würde diese Angelegenheit auf keinen Fall auf sich beruhen lassen, falls Rautio versuchte,
sie zu begraben. Und das wusste Rautio.
Vom flotten Gehen außer Atem betrat Timo das TER A-Hauptquartier in der Adolphe Buy. Der Pförtner sah ihn überrascht an.
»Ich möchte mit Wilson sprechen«, sagte Timo.
Der Pförtner griff zum Telefon.
Kurz darauf kam Wilson in die Eingangshalle herunter, mit ernstem, fast aggressivem Gesichtsausdruck. »Was willst du noch?«,
zischte er.
Timo lebte sofort auf. »Ich wollte fragen ...«
»Nicht hier. Gehen wir hinaus.«
Sie marschierten zu dem zweihundert Meter entfernten gepflasterten Platz, auf dem eine Parkbank stand.
»Warum hast du das getan?«, fragte Wilson.
»Was?«
»Treib kein Spielchen mit mir.«
»Ich weiß nicht, wovon ...«
»Es hat mich einige Mühe gekostet, zu beweisen, dass ich diesen Zettel nicht unterschrieben habe. Begreifst du nicht, wie
idiotisch es ist, ein Archivformular zu fälschen?«
»Ich hab das nicht zum Vergnügen getan. Wie ist es herausgekommen?«
»Bei einem routinemäßigen Cross-Check«, sagte Wilson ausweichend.
»Ihr habt kontrolliert, weil die Amerikaner es euch befohlen haben. Und du hast mir gekündigt, weil die Amerikaner es befohlen
haben.«
Die Geräusche der vorbeifahrenden Autos füllten die Stille zwischen den beiden Männern.
Wilson widersprach nicht. Darum glaubte Timo, Recht gehabt zu haben. Mit einem Mal fühlte er neue Energie in sich. Nicht Rautio
steckte hinter dem Rausschmiss, sondern die Amerikaner.
|128| »Ich weiß, dass Washingtons Macht heutzutage fast überall hinreicht«, sagte Timo. »Aber ich hätte nicht geglaubt, dass man
auch bei TERA nach der U S-Pfeife tanzt.«
Das war scheinheilig, und Timo wusste das. Die Welt der internationalen Nachrichten- und Geheimdienste war ein Kosmos für
sich, mit ganz eigenen Regeln. Da wurden Geschäfte gemacht, da wurde Material ausgehändigt und in Empfang genommen, da gab
es Gefälligkeiten und Gegenleistungen. Es bestand kein Zweifel daran, dass die TERA irgendwann in einer anderen Angelegenheit
von der Hilfe der Amerikaner profitieren würde.
»Und was, wenn die Frau in der Seine von den Amerikanern umgebracht wurde? Dann wäre es kein Wunder, dass sie an einer Aufklärung
nicht interessiert sind«, sagte Timo mit einem Hauch von Erregung in der Stimme. »Interessiert dich wirklich nicht, was hier
gespielt wird?«
»Mein Interesse und mein Handlungsspielraum gehen dich nichts mehr an. Wo sind die Kopien? Hast du sie vernichtet?« Wilson
stand auf.
Auch Timo
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