Das Hohelied des Todes
zwischen Rücken und Glas, drückte die Verschlußklammern fest und hängte es an seinen angestammten Platz an der Wand.
»Wunderbar«, sagte er. »Eigentlich gefällt mir das Bild so fast noch mehr. Es kommt besser zur Geltung.«
Sie schwieg.
»Ich gehe jetzt.«
Tränen rollten ihr über die Wangen.
»Es tut mir leid wegen heute morgen, Rina«, sagte er leise. »Ich habe mich wie ein Wahnsinniger aufgeführt.«
»Ich wußte gar nicht, daß dich das Bild gestört hat, Peter.« Sie wischte sich die Augen mit einem Taschentuch trocken. »Aber besonders viel weiß ich ja anscheinend sowieso nicht von dir.«
Jetzt war sie wieder wütend.
»Was möchtest du wissen?« fragte er ruhig.
»Komm nächste Woche wieder. Bis dahin hab’ ich einen Fragebogen fertig.«
»Ich kann verstehen, daß du böse bist, Rina, aber das bringt uns auch nicht weiter.«
»Warum bist du gekommen?«
»Um mich zu entschuldigen.«
»Das wäre ja nun erledigt.«
»Du sagst immer, du willst mit mir reden. Jetzt versuche ich es, aber es scheint mir auch nicht viel zu nützen.«
»Vielleicht bin ich einfach zu wütend.« Sie senkte den Kopf. »Und zu tief gekränkt.«
»Ich hätte dir von meiner Adoption erzählen müssen. Aber glaube mir, Rina, ich habe es dir nicht aus Sturheit verschwiegen. Du solltest dir nur keine falschen Vorstellungen von mir machen. Ich konnte mich doch nicht als Jude ausgeben, obwohl ich gar nicht wußte, was das eigentlich bedeutet.«
»Ich bin nicht dumm, Peter. Ich weiß, wie schwer es sein kann, unser Leben zu führen. Mir selbst fällt es nicht schwer – ich liebe es. Aber jemand, der nicht so aufgewachsen ist, empfindet es sicher als beengend.«
»Als sehr beengend.«
»Glaubst du überhaupt an irgend etwas?«
»Ich weiß nicht«, gestand er. »Aber auf jeden Fall finde ich einige eurer Gesetze unsinnig.«
»Zum Beispiel?«
»Die Trennung der Geschlechter. Frauen werden als Eigentum angesehen …«
»Das ist nicht wahr.«
»Schatz, deine Ktubba ist doch nichts anderes als ein Kaufvertrag. Dein Mann hat dich gekauft.«
»So einfach ist das nicht.«
Er wartete auf eine Erläuterung.
»Ich will mich jetzt nicht auf eine religiöse Debatte einlassen, Peter. Warum sprichst du nicht mit Rav Schulman darüber? Er könnte es dir viel besser erklären.«
»Ja, der gute Rav hat anscheinend auf alles eine Antwort parat. Und wenn es keine Antwort gibt, soll ich mich einfach in blindem Gottvertrauen üben. Das ist nicht die Antwort, nach der ich suche.«
»Was suchst du denn? Eine Patentlösung? Die gibt es nicht.«
»Aber warum muß man sich dann erst eine Religion zusammenschustern, Rina? Warum sagt man nicht einfach, alles ist Zufall? Manchmal geht es gut aus, manchmal geht es schlecht aus.«
»Weil das eine sehr traurige Lebenseinstellung ist. Ich glaube nicht, daß wir nur durch eine zufällige Mutation entstanden sind oder daß wir in einer Million Jahre nur noch aus Riesengehirnen und verkümmerten Körpern bestehen. Das glaube ich einfach nicht. Der jüdische Glaube verlangt mehr als blindes Gottvertrauen, Peter. Er ist mehr als etwas Zusammengebasteltes. Das Judentum ist die Geschichte. Der Chumasch, das sind keine netten kleinen Fabeln, das ist die Familienchronik meiner Ahnen – deiner Ahnen. Wenn ich in die Mikwe tauche, denke ich: So haben schon Sarah, Riwka, Rachel und Lea vor Tausenden von Jahren gebadet. Die Tora ist zeitlos. Ich verstehe nicht, warum mein Mann mit achtundzwanzig an einem Gehirnturmor sterben mußte. Ich verstehe nicht, warum ich drei Fehlgeburten hatte. Natürlich könnte ich die Welt verfluchen und mich von Gott lossagen, aber was für eine Alternative hätte ich dann? An eine Welt zu glauben, die ausschließlich durch von Menschen erdachte Gesetze regiert wird? Gesetze, die ein Wahnsinniger nach Lust und Laune ändern könnte? Das ist es doch, was in Nazi-Deutschland passiert ist, Peter. Dort gab es eine Verfassung. Es gab Gesetze. Du weißt ja selbst, wie ernst sie genommen wurden.«
Darauf wußte Decker nichts zu sagen.
»Das rabbinische Recht ist unwiderruflich, Peter, weil es göttlich ist. Damit will ich natürlich nicht sagen, daß das Judentum eine statische Religion wäre, ganz im Gegenteil. Aber die Zehn Gebote sind und bleiben die Zehn Gebote. Sie werden sich nicht ändern, nur weil ein Guru in einer Talkshow behauptet, gegen Ehebruch sei nichts einzuwenden. Ich glaube an die Tora, weil ihre Wahrheiten absolut sind.«
»Ich habe dich schon um deinen
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