Das Hohelied des Todes
unter das Kinn geklemmt, trank er das Bier in durstigen Zügen und lauschte auf das Freizeichen am anderen Ende der Leitung. Seine Exfrau meldete sich.
Verflucht!
»Hi, Jan«, sagte Decker. »Ist Cindy da?«
»Sie macht Hausaufgaben.«
»In den Weihnachtsferien?«
»Sie sitzt über einer wichtigen Sache.«
»Kann ich sie bitte sprechen?«
»Du weißt doch, daß sie sich beim Lernen nicht gern stören läßt.«
»Ich halte sie bestimmt nicht lange von der Arbeit ab.«
»Es ist schon spät, Pete. Zehn Uhr durch.«
»Erst Viertel vor.«
»Trotzdem hättest du früher anrufen können.«
»Habe ich ja, Jan. Es war keiner zu Hause.«
»Ich war aber da. Wann hast du es denn probiert?«
Verdammt!
»Muß so gegen vier gewesen sein. Gibst du mir jetzt bitte Cindy?«
»Vier?« Eine Pause. »Was habe ich noch mal um vier gemacht? Aber Allen war auf jeden Fall um vier zu Hause.«
»Vielleicht war es auch ein bißchen früher.«
»Allen ist seit drei Uhr zu Hause.«
»Jedenfalls ist kein Schwein ans Telefon gegangen, Jan.«
Schweigen. »Du kannst einfach nicht anders, was, Pete?« sagte sie.
Er holte tief Luft.
»Kann ich bitte mit meiner Tochter sprechen?«
»Augenblick. Mal sehen, wie vertieft sie ist.«
Sie kreischte Cindys Namen. Die Schreierei war eine ihrer schlimmsten Angewohnheiten. Wenn sie einem etwas zu sagen hatte, kam sie nie in das Zimmer, in dem man gerade war. Sie kreischte es durchs ganze Haus. Decker hörte, wie der Hörer des Nebenanschlusses abgenommen wurde.
»Hi, Dad«, sagte Cindy.
»Hat deine Mutter aufgelegt?« fragte Decker.
Sogleich knackte es in der Leitung. Vermutlich hatte sie den Hörer wütend auf die Gabel geknallt. Cindy lachte.
»Was gibt’s?« fragte sie.
»Ich wollte mich nur mal wieder melden.«
»Stimmt was nicht?«
»Wieso sollte was nicht stimmen?«
»Du klingst sauer. Hast du Krach mit Rina?«
»Nein.«
»Was ist los mit dir, Dad? Habt ihr vielleicht mal wieder eine sechzehnjährige Ausreißerin aufgegriffen, die dich an mich erinnert?«
»Nur zu deiner Information, Cindy, ich arbeite zur Zeit an einem äußerst trockenen Fall.«
»Was für ein Fall soll das denn sein?«
»In den Bergen sind menschliche Skelette gefunden worden. Wir versuchen, sie mit viel Kleinarbeit zu identifizieren.«
»Laß mich raten. Die Knochen gehören einem sechzehnjährigen Mädchen.«
Er schwieg.
»Du kennst mich einfach zu gut«, gab er schließlich zu.
»Ich lebe, Daddy. Ich bin gesund und munter. Hier, hör mal genau hin.«
Er hörte dumpfe Geräusche in der Leitung. »Weißt du, was das war, Daddy?« fuhr sie fort. »Das war mein Herz.«
»Hört sich gut an.«
»Ich habe ein furchtbar starkes Herz, weil ich jeden Tag jogge. Und soll ich dir noch was sagen, Daddy? Ich habe keine Probleme. Ich nehme keine Drogen wie diese Ausreißerinnen, die du aufgabelst. Ich bin gut in der Schule. Und schwanger bin ich auch nicht. Du kannst also ganz beruhigt sein. Paß lieber auf dich selber auf, statt dir um mich Sorgen zu machen.«
»Ich habe mir keine Sorgen um dich gemacht, ich wollte doch bloß …«
»Ach, Quatsch, Daddy. Ist nicht böse gemeint, aber Quatsch ist es trotzdem. Immer, wenn du an einem Fall arbeitest, bei dem es um ein Mädchen in meinem Alter geht, hast du so eine belegte Stimme. Wie soll das nur mit dir werden, wenn ich demnächst aufs College gehe?«
»Dann führen wir eben Ferngespräche.«
»Wenn du die Studiengebühren bezahlt hast, kannst du dir keine Ferngespräche mehr leisten.«
Decker lachte.
»Aber mal im Ernst, Daddy. Ich habe keine schlechten Aussichten, ein Begabtenstipendium zu ergattern. Ich glaube, beim letzten Test habe ich ziemlich gut abgeschnitten.«
»Super!«
»Ich möchte dir und Mom so wenig wie möglich zur Last fallen, aber das Studium an der Ostküste wird ganz schön kostspielig werden.«
»Hör zu, Schatz. Das laß mal unsere Sorge sein. Mach du nur einen guten Abschluß, um alles andere kümmern sich deine Mom und ich dann schon.«
Sie schwieg.
»Weißt du, ich habe mir da was überlegt«, sagte sie schließlich.
»So, so.«
»Tja, also …«
»Ja?«
»Äh, du weißt doch, daß Eric auch an der Ostküste studiert, an der Columbia, und, äh …«
»Raus mit der Sprache, Cindy. Ich werde schon nicht gleich in Ohnmacht fallen.«
»Tja, vielleicht würde es euch alles ein bißchen billiger kommen, wenn wir, also Eric und ich …«
»Ihr wollt zusammenziehen?«
»So hatten wir uns das mehr oder weniger
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