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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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alle packen und uns zur Abreise fertigmachen sollten, war Lilly am Schreiben. Wir hörten die Schreibmaschine und konnten uns vorstellen, wie die kleinen Hände unserer Schwester über die Tasten schwirrten.
    »Jetzt wo meine Sachen bald herauskommen«, hatte Lilly gesagt, »muß ich wirklich besser werden. Ich muß einfach weiterwachsen«, sagte sie, ein wenig verzweifelt. »Mein Gott, das nächste Buch muß größer werden als das erste. Und das danach«, sagte sie, »das muß noch größer werden.« So wie sie das sagte, war eine gewisse Verzweiflung herauszuhören, und Frank sagte: »Halt dich an mich, Kleines. Mit einem guten Agenten hast du die ganze Welt im Sack.«
    »Aber ich muß es immer noch tun«, klagte Lilly. »Ich muß immer noch schreiben. Ich meine, jetzt erwartet man von mir, daß ich wachse.«
    Und das Geräusch, das von Lillys angestrengten Wachstumsversuchen zeugte, lenkte Franny und mich voneinander ab. Wir gingen hinaus in die Lobby, wo wir ein wenig mehr in der Öffentlichkeit waren - wo wir uns sicher fühlten. Zwei Männer waren eben erst in dieser Lobby getötet worden, aber Franny und ich waren dort sicherer als in unseren eigenen Zimmern.
    Die Nutten waren verschwunden. Es interessiert mich nicht mehr, was aus ihnen geworden ist. Es interessierte sie auch nicht, was aus uns wurde.
    Das Hotel war leer; gefährlich viele Zimmer lockten Franny und mich.
    »Eines Tages«, sagte ich zu ihr, »werden wir es tun müssen. Das weißt du auch. Oder meinst du, es ändert sich - wenn wir einfach abwarten?«
    »Es wird sich nicht ändern«, sagte sie, »aber vielleicht sind wir - eines Tages - besser in der Lage, damit umzugehen. Vielleicht wird es eines Tages etwas weniger gefährlich sein, als es uns im Augenblick noch vorkommt.«
    Ich bezweifelte, daß es jemals ungefährlich genug sein würde, und ich war drauf und dran, sie zu überreden, es jetzt zu tun, das zweite Hotel New Hampshire zu nutzen, so wie es genutzt werden wollte - um es hinter uns zu bringen, um zu sehen, ob wir unrettbar verloren waren oder uns nur auf unnatürliche Weise zueinander hingezogen fühlten -, aber Frank war unser Retter ... diesmal.
    Er tauchte mit seinen Koffern in der Lobby auf und erschreckte uns zu Tode.
    »Herr Gott nochmal, Frank!« schrie Franny.
    »Sorry«, murmelte er. Frank hatte seinen üblichen sonderbaren Kram bei sich: seine alten Bücher, seine merkwürdigen Kleider und seine Schneiderpuppe.
    »Willst du diese Puppe mit nach Amerika nehmen, Frank?« fragte ihn Franny.
    »Sie ist nicht so schwer wie das, was ihr beide mit euch rumschleppt«, sagte Frank. »Und sie ist entschieden ungefährlicher. «
    Damit war klar: Frank wußte es also auch. Zu der Zeit dachten Franny und ich, Lilly wisse nichts davon; und wir waren - was unser eigenes Dilemma betraf - dankbar, daß Vater blind war.
    »Bleibt immer weg von offenen Fenstern«, sagte Frank zu Franny und mir - die verdammte Schneiderpuppe, die er sich wie ein leichtes Holzscheit über die Schulter geworfen hatte, hatte irgend etwas Beunruhigendes in ihrem Aussehen. Es war ihre Unechtheit, die Franny und mir auffiel: das ramponierte Gesicht, die offenkundige Perücke und die steife, so gar nicht sinnliche Büste der Puppe - der falsche Busen, die unbewegliche Brust, die starre Hüfte. Bei der schlechten Beleuchtung in der Lobby des zweiten Hotels New Hampshire ließen Franny und ich uns so täuschen, daß wir glaubten, Kummer in neuer Gestalt zu sehen, obwohl gar nichts zu sehen war. Aber hatte uns nicht Kummer gelehrt, auf der Hut zu sein, ihn überall zu erwarten? Kummer kann jede Gestalt der Welt annehmen.
    »Bleib du auch weg von offenen Fenstern, Frank«, sagte ich - bemüht, seine Schneiderpuppe nicht zu genau zu fixieren.
    »Wir müssen alle zusammenhalten«, sagte Franny - gerade als Vater in seinem Schlaf ausrief: »Auf Wiedersehen, Freud!«

11.
Verliebtsein in Franny;
Fertigwerden mit Chipper Dove
    Liebe schwimmt auch obenauf. Und weil das so ist, gibt es wahrscheinlich noch mehr Ähnlichkeiten zwischen Liebe und Kummer.
    Wir flogen im Herbst 1964 nach New York - und diesmal nicht mit getrennten Flügen; wir hielten zusammen, wie Franny uns geraten hatte. Die Stewardeß störte sich an dem Baseballschläger, aber sie ließ zu, daß Vater ihn zwischen den Knien hielt - den Blinden werden menschliche Zugeständnisse gemacht, ungeachtet der Vorschriften.
    Junior Jones konnte uns nicht am Flughafen abholen. Junior ließ seine letzte Saison bei den

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