Das Hotel
ebenfalls.
» Und wozu brauchen sie uns noch?«, wollte sie wissen.
Cam blieb ihr eine Antwort schuldig.
» Cam, bitte. Wenn Sie etwas wissen, dann sagen Sie es mir. Ich kann die Wahrheit vertragen.«
» Die … Die verschleppen Frauen, um Babys zu machen.«
Kelly wusste, dass sie jetzt Mut beweisen musste. Mom hatte ihr gesagt, dass man vor allem in wirklich schlimmen Situationen die Angst bekämpfen und einen kühlen Kopf bewahren musste. Emotionen waren in einem solchen Fall nicht zuträglich.
Aber die Tränen stiegen trotzdem in Kelly auf.
» Kelly? Alles in Ordnung?«
» Ich bin erst zwölf!«, schluchzte sie.
» Scheiße. Pass auf, das wird schon. Wir kommen hier raus. Das verspreche ich dir.«
» Wie denn? Was ist, wenn sie Mom und Grandma auch schon in ihrer Gewalt haben? Niemand weiß, wo wir sind.«
» Ich war schon öfter in der Klemme, Kelly. Wir schaffen das.«
Sie schluchzte nun hemmungslos, bis ihre Nase zu laufen begann. Die ganze Zeit hörte sie Cam sagen: » Ist gut, wir schaffen das. « Immer und immer wieder.
Sie dachte an Mom, die ihr, seit sie sich als Vierjährige das Knie aufgeschlagen hatte, stets das Gleiche vorbetete:
» Du musst stark sein. Du änderst nichts, indem du weinst. Konzentriere dich darauf, wie du deine Situation verbessern kannst.«
Mom hat recht. Ich kann entweder heulen oder etwas dagegen unternehmen.
Kelly putzte sich die Nase am Ärmel ab und fragte: » In welchen Klemmen?«
» Was?«
» Sie haben gesagt, dass Sie schon öfter in der Klemme gesteckt hätten.«
» Das … Es ist schwierig, darüber zu reden.«
Kelly presste das Ohr gegen die Wand. » Bitte, Cam. Ich drehe hier gleich durch. Erzählen Sie mir was, das mir Hoffnung gibt.«
Cam antwortete nicht.
» Bitte.«
» Ich war noch ein Kind. Am Ende der Straße stand ein verlassenes Haus, und mein bester Freund und ich spielten darin. Ein Mann, ein Landstreicher, hat sich uns geschnappt. Ich wurde in einen Schrank gesperrt. Mein Freund … Der Mann hat ihm wehgetan. Es war schrecklich. Und für so lange. Fürchterlich. Er starb. Ich habe alles gehört. Doch ich bin entkommen. Damals bin ich entkommen, Kelly. Und ich werde wieder entkommen. Wir beide werden entkommen.«
» Das ist ja grauenvoll, Cam.«
» Nietzsche hat gesagt, dass uns das, was uns nicht umbringt, stärker macht. Ich bin stark, Kelly. Und ich wette, du auch. Wir werden hier rauskommen.«
» Ruhe!«
Das war eine andere Stimme. Eine Frau. Aus der Zelle auf der anderen Seite ihrer eigenen.
» Wer sind Sie?«, brüllte Kelly.
» Ruhe!« , wiederholte die Frau. » Wir dürfen nicht reden! Sie tun uns weh, wenn wir reden!«
» Wer sind Sie?«, wiederholte Kelly. » Wie heißen Sie?«
Kelly hörte ein metallenes Klirren und dann wieder die Stimme der Frau: » Nein! Ich habe nicht geredet! Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht reden sollen! Bitte tut mir nicht weh! Ich bin schwanger!«
Kurz darauf folgte ein Schrei, der so furchterregend klang, dass es das Schlimmste war, was Kelly in ihrem bisherigen Leben gehört hatte.
Was kann jemanden dazu bringen, so zu schreien?
Kelly schlang die Arme um ihre Knie und starrte auf die Tür. Ihre Nase fing wieder zu laufen an. Sie wagte jedoch nicht, zu schniefen. Sie würde keinen Laut mehr von sich geben.
Bitte nicht die Tür aufmachen.
Bitte nicht.
Bitte bitte bitte verschwindet …
Als Mal die Augen öffnete, lag er nackt auf einem kalten Tisch aus Edelstahl. Er kannte solche Tische aus seinen Tagen bei der Polizei. Es war ein solider Tisch, vertrug locker zweihundertfünfzig Kilo und besaß Rinnen an den Kanten, um etwaige Körperflüssigkeiten aufzufangen und sauber abfließen zu lassen.
Ein Tisch, wie ihn Leichenbestatter und Pathologen benutzen.
Er versuchte sich aufzurichten. Doch ein Riemen um sein Genick ließ das nicht zu. Dickes Leder und schwere Schnallen lagen auch um seine Handgelenke und Fesseln.
Mal erinnerte sich an die Dusche, das blutige Shampoo und dann an diese Kreatur.
Was zum Teufel ging hier vor sich?
Er blickte sich um, so weit er konnte. Der Raum war klein und dank einer großen Leuchtstofflampe sehr hell. Die Wände bestanden aus Beton. Es gab zwei Türen. Ein Fernseher und ein Videorekorder waren eher schlecht als recht auf einem Pappkarton aufgetürmt. Strom lieferte ein Dreifachstecker, der auf dem erdigen Boden lag und dessen Kabel unter der nächsten Tür verschwand.
Neben dem Tisch stand ein Wägelchen, auf dem benutzte und schmutzige
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