Das Imperium
Stimme zu schützen, trank Vao’sh seine tägliche warme Sirupmischung und sang dann einige wortlose Noten, um seine Stimme in die richtige Tonlage zu bringen. Dann ging er zu seinem ersten Treffen mit Dio’sh, dem einzigen überlebenden Erinnerer von Crenna.
Vao’sh begegnete seinem Verwandten aus dem Geschlecht der Erinnerer im hellen Sonnenschein, auf einer Terrasse des Prismapalastes. Dio’sh hatte die Augen geschlossen und die Hände auf die glatte Oberfläche eines Tisches gelegt, so als könnte das strahlende Licht der sieben Sonnen ihn von den Schatten des Albtraums befreien. Alle Einzelheiten der schrecklichen Ereignisse auf Crenna hatten sich ihm fest ins Gedächtnis eingeprägt.
Als Dio’sh den erwarteten Besucher bemerkte, wandte er sich dem obersten Historiker zu. Die Erleichterung des jüngeren Erinnerers war offensichtlich – seine Hautlappen zeigten Anerkennung und Respekt. »Es ist mir eine Ehre, dass Sie gekommen sind, um mit mir zu sprechen, Erinnerer Vao’sh. Ich bin begierig darauf, mein Wissen mit Ihnen zu teilen, obwohl ich mich davor fürchte, es noch einmal zu durchleben.«
»Erinnerer erfinden keine Geschichten«, sagte Vao’sh. »Wir erzählen sie nur. Und wir müssen sie gut erzählen, und genau.«
Dio’sh verneigte sich. »Ich werde mir alle Mühe geben, Erinnerer.«
Vao’sh wartete, während Dio’sh seine Gedanken sammelte. Das Gesicht des jüngeren Erinnerers verfärbte sich, wurde grau, was auf Furcht und Entsetzen hindeutete. Dio’sh erbebte.
»Crenna«, drängte Vao’sh behutsam. »Sie waren dort. Sie haben alles gesehen, den Mut, die Tragödie, das Unheil.« Er berührte die zitternde Hand seines Kollegen. »Wenn Sie Ihre Eindrücke nicht weitergeben, haben sich die schrecklichen Ereignisse umsonst zugetragen. Wir müssen uns an die Helden und Opfer erinnern. Sie sind ein Erinnerer, Dio’sh.«
Der jüngere Mann atmete tief durch und öffnete die Augen. Er wirkte noch immer sehr beunruhigt, aber auch entschlossener. »Auch in anderen ildiranischen Splitter-Kolonien kam es zu Krankheiten«, sagte Dio’sh. »Wir erinnern uns an den Verlust von Kindern und Familien, die Fieber, Gift oder genetischen Leiden zum Opfer fielen. Aber dies…« Er sah auf und seine Hautlappen liefen scharlachrot an. »Diese grässliche Seuche macht erst blind, nimmt den Betroffenen den Trost des Lichts und bringt ihnen dann einen qualvollen Tod in der Quarantäne, getrennt von anderen Ildiranern. Und sie müssen von den anderen getrennt werden, damit sich die Krankheit nicht weiter ausbreitet.«
Dio’sh ballte die Faust und hob sie. Vao’sh spürte, wie tiefes Entsetzen in ihm wuchs. Ildiraner lebten im Licht, ständig umgeben von Artgenossen. Zwei Phobien gab es bei ihnen: Angst vor Dunkelheit und Angst vor Isolation.
Dio’sh sah jetzt nur noch die Bilder seiner Erinnerungen. »Crenna hat einen großen Mond und deshalb gibt es auch in der Nacht Licht. Außerdem ließen wir überall Lampen brennen, in jedem Haus und auch auf den Straßen, um die Finsternis von uns fern zu halten. Aber was nützen Lampen gegen eine Krankheit, die blind macht? Als der Crenna-Designierte erkrankte, stand er auf dem Stadtplatz und blickte direkt zur Sonne, aber er sah nur Dunkelheit.«
Violette und grüne Muster des Kummers und des Entsetzens huschten über die Hautlappen. Vao’sh schauderte, verzichtete aber auf einen Kommentar und merkte sich jedes Wort. Er stellte sich vor, wie der Crenna-Designierte, Sohn des Weisen Imperators, blind in die Sonne blickte. Eine gute dramatische Szene. Dieser Teil der Geschichte würde mehrmals erzählt und modifiziert werden, bis die endgültige Version schließlich einging in die Saga der Sieben Sonnen.
»Wir wissen nicht, wie es zu der Krankheit kam. Die Wissenschaftler auf Crenna waren größtenteils landwirtschaftliche Spezialisten, keine Bakteriologen. Wenige Tage nach dem ersten dokumentierten Fall erkrankten zehn weitere. Und dann wurden auch jene krank, die sich um die ersten Infizierten gekümmert hatten.
Nie zuvor haben wir es mit einer so virulenten und tödlichen Krankheit zu tun bekommen.
Durch das Thism fühlten alle das wachsende Entsetzen der Opfer, als deren Augen immer mehr in Mitleidenschaft gezogen wurden und es zu den ersten Fällen von Erblindung kam. Wir wussten, dass wir die Betroffenen unter Quarantäne stellen sollten, aber wie konnten wir einem blinden Kind sagen, dass wir es allein lassen mussten, isoliert von Wärme und Trost der
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