Das Implantat: Roman (German Edition)
den fadenscheinigen Versuch auf, das Ganze mit einem Lächeln abzutun, und wende Lucy den Rücken zu.
»Owen«, ruft sie und kommt näher. »Es ist okay.«
Das Mitleid in ihrer Stimme scheint sich mir in den Rücken zu bohren wie eine heiße Klinge.
»Es geht mir gut«, sage ich.
Sie legt die Hand auf meine Schulter, genau auf den warmen Urin, und in dem Moment weiß ich, dass ich sofort wegmuss. Ich versuche, mich loszumachen, doch Lucy hält mich fest.
»Owen …«
Verzweifelt zerre ich die Schulter weg. »Lass mich verdammt noch mal in Ruhe!«, schreie ich.
»Was hast du denn?«, fragt sie traurig, während sie sich die Hand an ihrem Kleid abwischt.
O Gott. Alles. Alles, nur nicht länger diese Scham ertragen müssen. So schnell ich kann, marschiere ich davon.
»Nichts«, rufe ich ihr über die Schulter hinweg zu. »Ich brauche keine Hilfe. Ich bin kein weiterer Streuner, den du bei dir aufnehmen kannst.« Sofort bereue ich, was ich gesagt habe. Ich fange an zu joggen, bis ich sie nicht mehr hören kann. Auf dem Weg zerre ich mir das mit Pisse durchtränkte Hemd über den Kopf, balle es zusammen und schmeiße es mit müder Geste ins Gras.
Als ich endlich Jims Wohnwagen erreiche, schlage ich die kaputte Tür hinter mir zu. Drehe das warme Wasser an, das in einem dünnen Strahl aus dem Hahn kommt, und fange es mit meinen schmutzverkrusteten Händen auf. Wasche mir Rotze und Tränen und Dreck aus dem Gesicht.
Im muffigen Tiefkühlfach finde ich eine halb gefüllte Eiswürfelform. Ich breche die Würfel heraus, wickele sie in ein Küchentuch und kühle damit meine geschwollene Lippe.
Wäre alles einfacher, wenn ich ein Otto Normalarsch wäre? Ja, das wäre es, verdammt noch mal. Dann würde ich nicht nach Pisse und Erniedrigung riechen. Dann könnte ich in meiner schönen Wohnung sitzen und all die armen Amps dort draußen bemitleiden, statt in dieser Wohnwagensiedlung misshandelt zu werden.
Langsam begreife ich, wie die neue Welt aussieht. Typen mit Scheinwerfern überwachen jede Nacht die Siedlung. Vor der Baustelle skandieren Demonstranten. Und ich muss mich hier verstecken und habe niemanden zum Reden. »Kopf runter, Fühler raus«, wie Jim sagt. Und jetzt werde ich auch noch von ein paar Teenagern aufgemischt. Genau vor den Augen des armen Nicky.
So viel dann auch zu Lucy Crosby. Das habe ich damit wohl gründlich vergeigt, nehme ich an.
Erneut öffne ich das Tiefkühlfach, langsamer diesmal. Ganz hinten liegt eine vereiste Flasche mit billigem Wodka. Drei viertel voll. Ich wende sie nachdenklich in den Händen hin und her.
Nick hat mir gesagt, ich sei hier in Eden, um etwas zu tun. Im Augenblick fällt mir da nichts Besonderes ein. Aber wenn ich wegen dieses verdammten Dings in meinem Kopf hier bin, dann bin ich bereit, mich der Sache zu stellen. Es anzuschalten und herauszufinden, was es damit auf sich hat – auf die eine oder andere Weise.
Ich will endlich wissen, was der Grund für das ganze Getue ist.
FDA U.S. Food and Drug Administration
Landesweiter Rückruf des Gehirnimplantats Neuronaler Autofokus MK-4®
Rückruf der Klasse 1 (begründete Gefahr schädlicher Folgen)
Auf Ersuchen der FDA und des US -Senats hat die Firma General Biologics vor kurzem einen dringenden Rückrufbrief an alle erfassten Benutzer eines medizinischen Gerätes geschickt. In dem Brief wurde die Sachlage erklärt, die betroffenen Produkte wurden genannt, und ihre Vertreiber wurden aufgefordert, den Vertrieb sofort zu stoppen sowie alle unbenutzten Produkte an General Biologics zurückzuschicken.
Vorgesehene Verwendung: Der Neuronale Autofokus ® soll bei einer Reihe ernsthafter Erkrankungen helfen, die Gehirnfunktion zu verbessern. Zu diesen Erkrankungen gehören verschiedene Formen der Epilepsie, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, posttraumatische Belastungsstörungen sowie Zwangsstörungen.
Grund des Rückrufs: Es wird über Nebenwirkungen geklagt, die das Verhalten beeinflussen. Dabei kann es zu Stimmungsschwankungen, Depressionen oder manischen Episoden kommen. Die genauen Auswirkungen sind noch unklar. In manchen Fällen musste das Implantat per Noteingriff entfernt werden. Aufgrund des Trainingseffekts, den das Gerät auf die Nervenbahnen des Benutzers hat, können die Beschwerden jedoch auch nach der Entfernung fortbestehen.
Patienten, welche die betroffenen Implantate tragen, wird geraten, einen der staatlich beauftragten Ärzte zu konsultieren, die in
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