Das Inferno
nicht renoviert. Sie waren noch immer die alten Lagerhäuser mit ihren verwitterten Holzlattenwänden, die weiß Gott wie lange schon hier standen und offenbar seit längerer Zeit nicht mehr im Gebrauch waren. Die Gauben hoch oben auf den schrägen Dächern wirkten so, als könnten sie jeden Augenblick herunterrutschen.
Wendover ging ein paar Schritte die Straße entlang, bevor er wieder stehen blieb. Die Sonne war hinter den Wolken herausgekommen und tauchte die eine Straßenseite in gleißendes Licht, während die andere in tiefem Schatten lag.
Hier und da zweigten schmale, kopfsteingepflasterte Seitengassen ab. Und dann sah Wendover auf einmal Delgado.
Der riesenhafte Mann hielt eine Flasche der Hand und kam etwas schwankend auf der sonnigen Seite der Straße auf ihn zu.
Wendover trat in eine Nebenstraße und beobachtete, wie Delgado an den reno vierten Lagerhäusern vorüber auf die alten Gebäude zuging.
Ein Bus fuhr langsam die Straße entlang und verbarg Delgado eine Weile vor Wendovers Blicken. Als er wieder freie Sicht hatte, war Delgado verschwunden – vermutlich in einem der Lagerhäuser. Aber in welchem? Insgesamt kamen vier davon in Frage.
Wendover machte kehrt und ging zurück zum Hangman’s Noose, wo er Herb von seiner Begegnung berichtete.
»Ich muss hier bleiben, bis mir Delgado wieder über den Weg läuft«, sagte er. »Und das kann gut ein paar Tage dauern.
Wissen Sie, wo ich hier in der Gegend ein Zimmer mieten kann?«
»Ja. Bei mir. Ich habe ein paar Gästezimmer im ersten Stock.
Eines davon habe ich Lisa gegeben, der hübschen Frau, mit der ich Sie bei den Unruhen gesehen habe. Heute Morgen hat ein Taxi ihren Koffer abgeholt.« Herb musterte den Amerikaner. Er war groß und blond und hatte einen durchtrainierten Körper.
Aber es war seine Kleidung, die Herb interessierte. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sind viel zu elegant angezogen, um tagelang hier abzusteigen. Mit solchen Klamotten fallen Sie in dieser Gegend auf wie ein bunter Hund. Ganz in der Nähe gibt es ein Geschäft, das Wingers heißt. Dort können Sie sich neu einkleiden.«
»Danke. Ich gehe gleich mal hin.«
Als er zurückkam, hatte er eine große Plastiktüte dabei, in der sich die Kleider befanden, die er vorher getragen hatte.
Anerkennend nahm Herb Wendovers neues Outfit in Augenschein: abgetragene Bluejeans, eine schäbige Tarnjacke und ein rotes Fallschirmjägerbarett.
»Das sieht schon besser aus. Und jetzt zeige ich Ihnen das Zimmer.«
Marier hatte die Wohnung, in der Helga Trent ermordet worden war, bald ausfindig gemacht. Das war auch nicht weiter schwer gewesen, da die Polizei immer noch die Straße vor dem Haus abgesperrt hatte. In einem Fenster im ersten Stock bemerkte Marier zwei Einschusslöcher.
Bevor er nach dem Haus gesucht hatte, hatte er sich in einem billigen Hotel – das in Wirklichkeit kaum mehr als eine Pension war – ein Zimmer gemietet. Es dämmerte bereits, als er über das Absperrband stieg und an der Haustür klingelte. Eine mittelalte Frau mit mürrischem Gesicht öffnete die Tür und sah ihn misstrauisch an. Wie eine Wächterin verschränkte sie ihre feisten Arme vor der Brust.
»Sind Sie die Vermieterin?«, sagte Marier.
»Die Hausbesitzerin, aber das geht Sie einen Dreck an.«
»Ich bin ein Freund der verstorbenen Helga Trent«, sagte Marier und schenkte der Vermieterin sein strahlendstes Lächeln, ein Lächeln, bei dem die Frauen normalerweise nur so dahinschmolzen. »Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich? Ich würde mich mit Ihnen gern über Helga unterhalten.«
»Hauen Sie ab. Sie sind doch bloß wieder einer von diesen ekelhaften Presseheinis. Typen wie Sie würde ich sogar mit verbundenen Augen erkennen.«
»Nein, ich bin kein Reporter. Ich möchte mich nur…«
»Scheren Sie sich zum Teufel.«
Die Frau schlug Marier die Tür vor der Nase zu. Er hörte, wie sie drinnen mehrere Riegel vorschob, und musste sich eingestehen, dass bei diesem Exemplar des weiblichen Geschlechts sein berühmter Charme komplett versagt hatte. Er ging zurück zu seinem Hotel und setzte sich dort in die Bar.
Beim Einchecken hatte er sich als Vertreter für Solaranlagen ausgegeben, weil er dachte, dass er auf diese Weise wohl kaum auf jemanden treffen würde, der denselben Beruf hatte und mit ihm fachsimpeln wollte.
Eine wasserstoffblond gefärbte Frau in einem knallengen Minikleid setzte sich auf den Barhocker neben ihm. Sie zündete sich eine Zigarette an und
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