Das Internat
Niedergeschmettert und am Boden zerstört hätte sie sich fühlen sollen wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter an ihrer Stelle. Aber Ivy wusste nicht, was sie fühlen – oder wie sie leiden sollte. Sie war wie betäubt und verwirrt. Wie verlor man jemanden, den man nie hatte? Nie hatte sie ihre Mutter gekannt, und jetzt würde sie sie auch nicht mehr kennenlernen.
Der Ausblick auf einen blauen See erregte ihre Aufmerksamkeit. Ivy schaute aus dem Fenster und sah, dass sie den zweispurigen Highway entlangrollten, der an die Halbinsel von Tiburon grenzte. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie fuhren. Ihr Vater würde sie vermutlich zu einem frühen Abendessen in Sausalito einladen – oder in San Francisco, wenn er in der Stimmung für etwas Exotischeres war. Natürlich wusste sie nicht, wohin sie fuhren. Stets bestimmte ihr Vater den Ort, auch zu speziellen Anlässen wie ihrem Geburtstag. Sie hatte ihn noch nie zufriedenstellen können. Wie hätte sie also ein anständiges Restaurant auswählen sollen?
Sie durchbrach die Stille mit einer Frage. "Warum durfte ich zur Beerdigung nicht nach Hause?"
Sein kleiner Finger glitt die Falte seiner Wollhosen entlang, glättete die Wellen und hinterließ eine perfekte ebene Fläche.
"Es war keine richtige Beerdigung", sagte er. "Es waren nur deine Mutter und ich, in aller Stille, so wie sie es sich gewünscht hätte."
"Es muss tatsächlich sehr still gewesen sein, denn sie war ja
tot."
Er sah sie an, als wüsste er nicht, was er mit ihrem Tonfall anfangen sollte. "Ich wollte dich nicht diesem Stress aussetzen. Du hattest Probleme in der Schule und …"
"Sie war meine Mutter!"
"Ivy, beherrsche dich. Ich will doch nur das Beste für dich. Ich liebe dich."
"Richtig, genauso wie du sie geliebt hast? Du hast sie in den Wahnsinn getrieben, nicht wahr? Du hast sie ermordet."
Zischend atmete er ein. "Wie kannst du es wagen."
Noch nie hatte Ivy ihren Vater kritisiert und offen angegriffen, und jetzt konnte sie damit nicht aufhören. "Ich hätte um meine Mutter trauern dürfen müssen. Was ist mit ihr passiert? Hat sie sich deinetwegen umgebracht? Hast du sie verrückt gemacht?"
Er lehnte sich nach vorne und stützte die Ellbogen auf die Knie, den Kopf gesenkt, als würde er nachdenken. Er betrachtete seine Hände, inspizierte die Fingernägel. "Vielleicht ist es an der Zeit, dich wieder auf Medikamente zu setzen", sagte er ruhig.
Ivy wollte die Autotür öffnen und hinausspringen. "Nein, bitte."
Seine Stimme nahm einen tiefen, gemeinen Ton an. "Ich weiß nicht, wie du so über deine Mutter reden kannst. Es beleidigt ihr Andenken. Sie war sehr krank, aber sie hätte sich niemals das Leben genommen, und das weißt du."
Ivy wusste es nicht. Überhaupt nicht. Es gab Zeiten, in denen sie dachte, dass das der einzige Ausweg sei. Ihre Mutter hatte wahrscheinlich genauso gefühlt. "Wie ist sie denn gestorben?"
Seine Nasenflügel bebten. "Ich wollte es dir heute Abend beim Essen erzählen. Ich hatte sogar eine Überraschung, aber die ist jetzt ruiniert." Er setzte sich zurück und starrte geradeaus, das Gesicht der Trennscheibe vor ihm zugewandt. "Du möchtest wissen, wie deine Mutter starb? Erst einmal muss ich dir etwas erzählen, das dich überraschen wird. Sie war schwanger."
"Schwanger?" Ivy konnte sich das nicht vorstellen. Zwei Jahre lang hatte sie nicht gesehen, dass sich die beiden berührt hätten – erst recht nicht, seit den immer häufiger werdenden Anfällen ihrer Mutter, die zu ihrem Rückzug geführt hatten. Ivy wollte fragen, ob das Baby von ihm war, aber sie traute sich nicht.
"Ja, schwanger", bestätigte er, "aber es gab Komplikationen, also lieferte der Arzt sie ins Krankenhaus ein. Sie hatte Angst, das Baby zu verlieren, und wollte nicht, dass irgendwer davon erfährt, nicht einmal du. Sie starb bei der Geburt."
Ivy sah ihm selten direkt ins Gesicht. Jetzt blickte sie ihn unverhohlen an. "Das glaube ich dir nicht."
"Wovon redest du? Warum sollte ich lügen? Ich hätte es dir früher erzählt, aber wir wussten nicht, ob das Baby überleben würde. Du hast eine Schwester. Sie ist drei Monate alt."
Ivy konnte nicht länger zuhören. Sie konnte ihn nicht ansehen. Bäume rauschten draußen an ihnen vorbei, aber auch die nahm sie nicht wahr.
Er hat mich nicht zur Beerdigung meiner Mutter gelassen und nichts von der Schwangerschaft erzählt. Was verschweigt er mir noch?
"Ivy, hörst du mich? Deine Mutter hat ein Baby zur Welt gebracht. Du hast eine kleine
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