Das Internat
geworfen worden. Es machte keinen Unterschied mehr, auf welcher Seite des Richterstuhls sie saß.
Würde Jameson Cross genauso anmaßend sein? Würde er Gnade walten lassen? Verdiente sie welche?
Ihre Beine wollten sie nicht länger tragen, aber irgendetwas hielt Mattie aufrecht, und das lag nicht nur am Adrenalin, das durch ihren Körper gepumpt wurde. Gott sei Dank war ihr Richterstuhl so eine hervorragende Barriere.
Wie sie es schon so oft getan hatte, wenn ihre Welt zu zerbrechen drohte, atmete sie tief ein und konzentrierte sich. Im Geiste sah sie die gelbe Kugel im Schwarzen der Zielscheibe vor sich –
der Ruhepol in der sich drehenden Welt
– und Mattie spürte, wie Entschlossenheit ihren Körper durchströmte, wie etwas, das man sehen und schmecken kann. In der Theorie würde jeder Atemzug sie stärker machen, und wenn sie eins wäre mit der gelben Kugel, wäre sie unangreifbar.
Dieser Mann wird mich nicht zerstören, sagte sie sich. Niemand wird das tun können. Ohne ein weiteres Wort an Cross verließ sie den Richterstuhl. Es war nur eine Stufe nach unten, aber wegen der High Heels, die Breeze sie zu tragen genötigt hatte, musste Mattie vorsichtig gehen. Auf festem Boden, straffte sie die Schultern und schritt auf die Richtertür zu.
"Wohin gehen Sie?", fragte er.
Seine Stimme klang tief, fast brutal. Ihre Erwiderung war ebenso kalt. "In mein Büro", sagte sie. "Dies ist eine persönliche Angelegenheit."
"Blödsinn. Sie haben doch gerade die Halle räumen lassen. Wir können hier reden."
Einen Moment lang blieb sie in der Tür stehen, um ihm zu antworten.
"Ich könnte den Gerichtsdiener rufen und Sie rauswerfen lassen. Er hat gesehen, wie Sie mich angreifen wollten."
"Ich könnte die Polizei rufen und Sie wegen Mordes verhaften lassen."
Verhaften? Was in Gottes Namen weiß er?
Mattie öffnete die Tür. "Ich gehe voraus. Sie können mir folgen oder es lassen."
Ihre Robe schwang hoch, als Mattie den Raum betrat. Die Stille im dunklen Zimmer schien fast unheimlich im Kontrast zu den drängenden Fragen, die ihr durch den Kopf donnerten. Sie konnte nicht bluffen, genauso wenig konnte sie Entrüstung vortäuschen. Sie musste erfahren, was er wusste. Wissen war nicht immer Macht. Ihrer Erfahrung nach konnte es sehr gefährlich sein. Aber in diesem Fall war es ihr einziger Trumpf.
Sie schaltete das Licht an und ging zu ihrem Schreibtisch.
Ganz langsam, Mattie. Es gibt keinen Grund zur Eile.
Dass er hinter ihr war, wusste sie, weil sie gehört hatte, wie er die Tür geschlossen hatte. Aber sie hatte nicht die Absicht, sich sofort umzudrehen. Lass ihn die einschüchternde Wirkung der majestätischen Kammern eines Richters am Berufungsgericht spüren. Er sprach nicht mit einer Anwältin, die zufällig am Bezirksgericht aushalf und in einem Übergangsbüro arbeitete. Dies war ihr Allerheiligstes, und sie konnte sich immer noch an die Angst und Ehrfurcht erinnern, die sie verspürt hatte, als sie das erste Mal durch diese Türen gegangen war. Begriff er denn, mit wem er es zu tun hatte?
Cross wartete nur darauf, dass sie sich umdrehte.
Er zog eine Plastikhülle voller Papierfetzen aus seiner schwarzen Segeltuchjacke. Außerdem hatte er einen Umschlag dabei, der so aussah, als enthielte er Abschriften aus der Schule.
"Matilda Smith", sagte er, "Rowe-Akademie, 1980 bis 1983." Er ließ den Umschlag auf den Tisch fallen. "Die Dean's List für besondere Leistungen, Lateinklub, Auszeichnungen in Englisch und Mathe, Bogenschießen und Mitglied im Club der einsamen Mädchen. Breeze Wheeler und Jane Dunbar gehörten ebenfalls dazu. Das vierte Mitglied Ihres Clubs, Ivy White, starb 1982 an einer Vergiftung, wahrscheinlich selbst verschuldet. Ihre Direktorin, Millicent Rowe, wurde einen Monat später ermordet, und bei ihrer Autopsie fand man Spuren desselben Gifts, Herzwein, allerdings nicht genug, um sie zu töten."
Mattie gestattete sich einen unauffälligen Blick auf die Plastikhülle, die er hielt. "Haben Sie sich Ihr Mittagessen mitgebracht?", fragte sie spöttisch. Sie weigerte sich, ihn ernst zu nehmen.
"Es ist das Tagebuch von William Broud. Und er erwähnt Sie darin. Die einsamen Mädchen, alle vier von Ihnen, identifiziert von Broud. An dem Tag, an dem er verhaftet wurde, behauptete er, dass die Direktorin ihre eigenen Schülerinnen hatte missbrauchen lassen. Millicent Rowe hatte einen lukrativen Nebenjob, nicht wahr, Mattie? Sie verkaufte sexuelle Gefälligkeiten minderjähriger Mädchen an einen
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