Das irische Erbe
sich und sah sich um. Außer ihr waren noch drei weitere Gäste anwesend, die bei ihrem Eintritt flüchtig hochgesehen hatten.
Sie bestellte Kaffee bei einem mürrisch dreinblickenden jungen Mädchen und hing ihren Gedanken nach.
Sie würde vorerst keinen Anbau an das Gesindehaus planen. Das konnten sie immer noch in Angriff nehmen. Einstweilen mussten sie sich eben mit weniger Platz begnügen. Und Tim war sowieso froh, wenn sie in unmittelbarer Nähe blieb. Auch als Kind schon kam er oft nachts zu ihr, weil er sich im Dunkeln fürchtete. Eine ganze Zeit lang hatte er sogar mit in ihrem Zimmer geschlafen auf einem behelfsmäßig hergerichteten Gästebett. Und es musste immer ein Licht anbleiben.
Tim schien erst in Irland seine Kindheit hinter sich gelassen zu haben. Wie würde es sein, wenn er einmal eine neue Freundin hatte? Wenn er überhaupt eine Frau fand. Sie unterdrückte ein Seufzen.
Tim tat sich schwer mit Frauen. Ob er jemals mit einer anderen Frau als Nina zusammenkommen würde, bezweifelte sie ernsthaft. Irgendwie konnte sie sich auch keine andere Frau an seiner Seite vorstellen. Manchmal befürchtete sie, dass er alleine bleiben würde. Er trauerte immer noch um Nina. Oft, wenn er sich unbeobachtet glaubte, machte sich ein trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht breit.
Sie sah auf ihre Uhr und erschrak. Es war schon nach drei. Rasch bezahlte sie und verließ das Café. Mit leichtem Herzklopfen, das sie einfach albern fand, überquerte sie die Straße und drückte auf die Klingel. Sie tastete nach ihrem Haarknoten, als sich die Tür schon öffnete. Das Gesicht des Mannes kam ihr vage bekannt vor, sie wusste aber nicht, woher. Weil er nichts sagte, ergriff sie das Wort: »Hallo, ich bin Claire Sammers.«
Der Mann sah mit seiner verblichenen Jeans und dem karierten Hemd wie ein Bauarbeiter aus. Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr nicht. Es kam ihr so vor, als sehe er sie abschätzig an, und sie dachte mit Unbehagen an ihr Kostüm, das jetzt plötzlich nicht mehr passte. Angesichts seines legeren Aussehens kam sie sich viel zu gestylt vor.
»Das dachte ich mir schon. Ich bin Ben Hastings«, er trat zur Seite und bat sie mit einer Geste einzutreten.
Er führte sie in ein kleines, völlig überfülltes Büro, in dem sich Berge von Unterlagen befanden. Auch der Schreibtisch war überladen. Auf dem einzigen Stuhl lagen Aktenordner so schief aufeinander, dass sie jeden Moment herunterzufallen drohten. Zwei Wände waren mit riesigen Plänen tapeziert.
Ein zweiter Schreibtisch sah nicht viel besser aus, wirkte aber durch eine kleine goldene Standuhr und eine blühende Topfpflanze feminin.
»Sind Sie gerade erst eingezogen?«, fragte sie, um die Situation etwas aufzulockern.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte er und nahm die Akten vom Stuhl.
»Nun«, verlegen suchte sie nach Worten.
»Schon gut. Setzen Sie sich.«
Gehorsam nahm Claire Platz, als eine Blondine aus dem Nebenraum auftauchte. Sie sah aus, als sei sie gerade aus dem Bett gekommen. Claire hatte keine Vorurteile, aber das Mädchen war eine so typische Blondine, dass sie sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen konnte. Sie kaute Kaugummi und trug ein T-Shirt, unter dem sich ihre prallen, hochgedrückten Brüste abzeichneten. Die Spitze des Büstenhalters guckte neugierig unter dem Ausschnitt hervor. Ihr Rock war superkurz und zeigte kräftige Oberschenkel, die früher oder später mit Cellulitis zu kämpfen haben würden. Ihre Sandalen waren hochhackig und sicher unbequem, die Zehennägel schwarz lackiert. Am dicken Zeh trug sie einen Ring.
Sie warf Claire einen flüchtigen Blick zu und sagte zu Hastings in einem verwaschenen Englisch, sie würde die Ablage gerne auf den nächsten Tag verschieben, sie habe jetzt einen Termin. Aber Hastings schüttelte den Kopf und sagte, er habe keinen Überblick mehr, sie müsse sich schon jetzt darum kümmern.
Sie müsse zum Arzt, beharrte sie. Und es sei dringend. Aber er ließ sich nicht erweichen und sagte nur, sie habe zugesagt, bei ihm mitzuarbeiten und könne nicht jeden Tag früher gehen. Missmutig wollte sie wissen, wie lange sie denn bleiben müsste.
Bis sie fertig sei.
Er ist konsequent, dachte Claire.
Er würde auch länger arbeiten und sie müsse noch ein Schreiben für ihn machen.
Aufgebracht wollte sie wissen, ob das nicht Zeit bis zum nächsten Tag habe.
Claire sah sich um. An den Wandplänen klebten kleine Zettel mit unleserlichen Notizen. Interessiert betrachtete sie den großen Plan. Sie
Weitere Kostenlose Bücher