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Das Isaac-Quartett

Das Isaac-Quartett

Titel: Das Isaac-Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jerome Charyn
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Schläfenlocken und einem schwarzen Gebetsmantel, der gemeinsam mit Rupert die Kästen voller Unterwäsche gesichtet hatte, tauchte hinter Esther Rose auf, murmelte: »Sie gestatten«, und ließ Handschellen um ihr Gelenk schnappen. Rupert gaffte ihn blöd an. Der Rabbi legte seine Höflichkeit ab. »Hopp, Mädel, Füße hoch, sonst reiß ich dir den Arm aus.«
    Der Rabbi zerrte sie drei Stockwerke höher in Melameds Zelle, einen Käfig von einem Meter zwanzig Höhe, der dazu bestimmt war, Ladendiebe zu demütigen, sie zu einem krummen Buckel zu zwingen, während der zweite Geschäftsführer die Polizei anrief. Rupert schlich um den Käfig und prüfte die Dichte des Maschendrahtes. Der Rabbi riss sich die Schläfenlocken runter, warf den Gebetsmantel ab und nahm die natürliche Schmierigkeit eines Ladendetektivs an. Rupert konnte den Maschendraht nicht anbohren. Mit der Stirn unter den Rippen des Detektivs kreischte Esther: »Papi, ich muss mal pinkeln.«
    »Pinkel so viel du willst«, sagte er. »Da kommst du nicht raus.«
    Kunden sammelten sich um den Käfig. Esther beugte ihre Schenkel und pisste. Die Kunden wichen zurück, rissen vor Entsetzen ihre Münder auf, als Esthers Urin zwischen sie strömte. Den Detektiv ließ das kalt. In zwei langen Fingern floss der Urin unter seinen Beinen. »Das wirst du aufwischen, Schwester. Mit deiner Zunge.«
    Esther knöpfte ihre Bluse auf. Die Kunden drängten wieder zum Käfig zurück und standen in der Pisse, um die Nippel der Ladendiebin anzugaffen. Der Detektiv hüpfte wild vor Esther rum und schirmte sie mit seinen Armen ab; selbst ein Hauch von Nacktheit in diesem Käfig konnte ihn seine Stelle kosten. Er schloss die Käfigtür auf und wollte Esther wieder Handschellen anlegen. Er hätte Rupert nicht den Rücken kehren sollen. Als Esther in die Tür trat – ihr verkleckster, bepisster Rock klebte an ihren Schenkeln und ihr Busenansatz lag weit über ihrem Ausschnitt –, grub Rupert seine Zähne in die Wade des Detektivs. Der Detektiv heulte auf, ließ die Handschellen fallen und griff nach seinem verwundeten Bein. Er versperrte Esther immer noch den Weg. Sie musste ihn erst in die Hoden kneifen, ehe sie zwischen ihm und dem Käfig durchschlüpfen konnte. Noch nie hatten die Kunden ein so verwerfliches Mädchen gesehen. Sie rollten sich ganz klein zusammen, um sich nicht an Esther zu beschmutzen. Esther war noch nicht fertig mit Melamed. Als sie den Haupteingang erreichten, hatte sie noch mehr Lollipop-Höschen und einen riesigen, unpraktischen Strumpfhalter. Ganz unbeschadet war sie allerdings nicht davongekommen. Es dauerte eine Woche, bis ihre Schultern nicht mehr gebeugt waren.
    Rupert kroch weiter. Es gefiel ihm auf den Schneehaufen; unten war der Schnee matschiger. Er konnte in Wohnzimmer sehen, Feuerleitern anfassen und ein Stück knusprigen Schnee essen. Kreuzungen waren ihm egal; Ampeln blinkten ihre Farben. Rupert gab nichts auf die Warnsignale. Auf der Grand Street war er in absoluter Sicherheit. Über Wälle konnten kein Bus und kein Auto fahren.
    Mit Hingabe kroch er weiter, Schnee in den Augen; er stieß gegen die Scheibe eines großen Ladens mit lebendem Federvieh. Rupert war Vegetarier. Der Geruch von gebratenem Fleisch war ihm widerlich. Die Vorstellung, Fleisch in einem Ofen zu schwärzen, ließ seinen Gaumen zusammenzucken. Das einzige Fleisch, an dem Rupert geknabbert hätte, war Isaacs. Ungelogen. Für Isaac den Reinen wäre er zum Kannibalen geworden.
    Er sah junge Hähnchen, Hühner und Hasen im Fenster. Die Hähne waren die Stars. Sie wohnten zu zweit in einem Käfig; manche pickten auf ihre eigenen Hälse ein, bis sich über den Flügeln kahle Stellen bildeten. Diese Hühner ekelten ihn an. Er beobachtete die Hasen mit den rosa Augen, weiße und graue, die Kohl knabberten und an ihrem Wassertrog schlabberten. Ihr Pelz wirkte unglaublich weich. Rupert wollte seine Daumen in das Fell stecken, ihre rosa Augen in den Schlaf streicheln. ›Wer zum Teufel konnte einen Hasen essen?‹, fragte er sich. Das Oberlicht über dem Fenster war störend. Rupert steckte seine Finger durch den Schlitz, schob, drückte, wand sich und zwängte sich hinein. Die Hühner kreischten. Die Hähne wabbelten traurig mit ihren fleischigen Kämmen. Wer hatte diese Vögel kastriert, sie gemästet, sie gestriegelt und ihre Kämme für den Verkauf gepflegt? Die Karnickel mümmelten vor Angst. Hier drinnen war es dunkel; der Schneehaufen hörte erst kurz vor dem Oberlicht auf

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