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Das Isaac-Quartett

Das Isaac-Quartett

Titel: Das Isaac-Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jerome Charyn
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ging immer geradeaus nach Galway, einer Stadt mit einem kleinen Marktplatz, im Vergleich zu Stephens Green nur ein Furz. Die Jungs hielten nicht in Galway. Aber dieser Platz verwirrte sie. Sie konnten nicht entscheiden, wohin sie abbiegen sollten. Dermott knurrte leise. »Die Straße nach Salthill, du Blödmann.«
    Jamey wollte nicht nachgeben. »Wir müssen nach Clifden. Und Oughterard.«
    »Wem gehört die Karre hier?«, wollte Dermott wissen.
    »Du bist der König, ich bin nur der Fahrer.«
    Also nahmen sie nicht die Straße nach Oughterard. Im nächsten Augenblick waren sie schon am Meer, in einer Art Bucht. Gänse flogen über sie hinweg, Wildvögel mit langen, knochigen Leibern und zarten Flügeln. Annie konnte nicht begreifen, womit sie sich fortbewegten. Wie konnten solche winzigen Flügel einen ganzen Vogel tragen? Sie war ein Stadtkind. Tauben, das kriegte sie in den Kopf, aber doch nicht solche Gänse, die mit ihrem Krächzen das Klopfen des Motors übertönen konnten.
    Sie fuhren dicht an einem schmalen Deich entlang und Annie hätte schwören können, dass sie alle in die Bucht stürzen würden. Der Esel zog sie auf. »Schau mal, Annie, hinter den Felsen da kannst du Manhattan erkennen.«
    »Ich komme aus Sunnyside«, erwiderte sie und redete kein Wort mehr mit Jamey. Er war wohl im Delirium. Er murmelte verrückte Geschichten, von denen Annie kein Wort verstand. Er redete in einem rauen englischen Dialekt, so, als ob er ohne eine solche Stimme nicht schon Riese genug wäre. »Hört ihr mich, Jungs. Kein O, kein Mac spaziert und stolziert je durch Galways Straßen. Das hier ist britisches Land. Erlöse uns, o Herr, von den grimmigen O’Tooles. «
    Dermott lachte. »Jamey, ich wusste gar nicht, dass deine Familie aus Galway stammt.«
    »Ach, das heißt doch nichts. Ich hab das alles aus dem Katechismus. Gott schütze die Iren, daheim und in Übersee. Ich bin Jamey O’Toole. Meine Familie stammt aus irgendeinem Scheißhaufen, den ein Engländer in Kildare aufgeschichtet hat. Zeig mir einen Iren, der seine Vorfahren aufzählen kann, und du findest denselben Scheißhaufen.«
    »Da hast du recht«, meinte Dermott.
    Annie fühlte sich beleidigt. »Mein Großvater hat Kartoffeln geerntet. Er war ein hart arbeitender Mann … aus Omagh, glaub ich. Oder Ballyshannon. Sprich du für dich selber.«
    »Ja, sie hätten es alle gern, einen Vater zu haben«, sagte Jamey. »Finn MacCool. Nicht die Kartoffeln, Annie, mein Mädchen. In uns allen steckt ein König. Deshalb brechen uns so schnell die Knochen.«
    Es hatte keinen Sinn, mit einem Esel wie ihm zu streiten. Ihr Mann verlor kein Wort zur Verteidigung der Iren. Wer war Jamey denn, dass er von den Menschen meinte, sie seien aus einem Scheißhaufen erwachsen? Annie konnte dort draußen nicht einen Baum entdecken. Meilen um Meilen nur Steine. Steinmauern zogen sich über die Hügel, die sich in niedrige, karge Berge verwandelten. Gelbe Blumen wuchsen zwischen den Steinen. Man konnte Kühe auf den Hügeln sehen, Schafherden und Heuhaufen mit Lumpen obendrauf. Die Schafe mit ihren gewundenen Hörnern und schwarzen Füßen und den blauen Markierungen auf dem Rücken sahen komisch aus, wenn sie näherkamen, fand Annie, gerade so, als sei ein Idiot durch die Gegend gerannt und habe Schafsärsche bunt gestempelt. Jamey hupte die Tiere an. »Na los. Geht jemand anderen nerven.«
    Sie mussten anhalten, bis mehrere Schafherden an beiden Seiten des Wagens vorbeigezogen waren. Jamey war verwirrt. Er nahm eine Kurve zu schnell und fuhr eine Kuh an. Annie fand den Anblick entsetzlich. Die Kuh lag tot da, die Hufe in die Höhe, Blut floss ihr aus einer Schulter.
    »Himmel«, brummte der Esel. »Ich dachte schon, wir wären von einem Felsbrocken erwischt worden.« Mit der Kuh hatte er nicht das geringste Mitleid.
    »Und wer räumt jetzt das beschissene Ding aus dem Weg?«
    Ein Bauer und sein Sohn tauchten vor dem Deich auf und näherten sich dem Wagen.
    »Ein Unfall«, erklärte Jamey. »Ich schwöre bei Gott … ich würde doch nie absichtlich eine Kuh über den Haufen fahren. Sie stand einfach da, Mann, und glotzte mich an … Ich konnte nicht ausweichen …«
    Der Farmer und sein Sohn schleiften die Kuh von der Straße. Der Junge weinte. Jamey zog ein Bündel irisches Geld aus der Brieftasche. »Wir sind keine Unmenschen«, sagte er. »Zweihundert für die tote Kuh.«
    Der Bauer wollte das Geld nicht annehmen. Jamey zerknüllte es in der Faust und wollte es dem Jungen geben.

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