Das italienische Maedchen
körperliche Anspannung ließ nach. Luca hatte das Gefühl, dass sie eingeschlafen war, doch kurz darauf schlug sie die Augen auf und lächelte ihn an.
»Jetzt ist es besser. Mein lieber Bruder, ich bin so froh, dass du da bist. War der Urlaub in England bei Rosanna schön?«
»Ja, sogar sehr.«
»Wie geht’s Rosanna und Nico?«
»Gut.«
»Prima. Luca, ich muss mit dir reden.« Nun klang sie fast normal. »Aber nicht jetzt. Heute Abend gehen wir zum Essen aus.«
»Bist du sicher, dass du das schaffst, Carlotta?«
»Nein, aber ich schaffe sowieso nicht mehr viel. Solange ich das Schmerzmittel eine halbe Stunde bevor wir aufbrechen nehme, ist alles in Ordnung. Wir müssen uns an einem Ort unterhalten, an dem uns niemand belauschen kann.«
»Carlotta, solltest du nicht lieber in die Klinik?«, fragte Luca.
»Das meinen jedenfalls die Ärzte. Aber ich habe die Wahl. Ich kann mich entweder ins Krankenhaus legen, mich mit Schmerzmitteln vollpumpen lassen und an den Tod denken, oder ich kann versuchen, noch ein wenig länger zu leben und zu leiden. Was würdest du tun?«
Luca sah sie voller Bewunderung an. »Du bist wirklich sehr tapfer, Carlotta.«
»Ja, momentan. Vielleicht, weil du hier bist. Manchmal ist es nicht so leicht.«
»Papà sagt, du willst mit ihm nicht über deine Krankheit sprechen. Carlotta, du musst mit ihm reden. Er fühlt sich ausgeschlossen. Er braucht Zeit, das zu verdauen.«
»Ich werde mit Papà reden, wann ich es für richtig halte. Ich möchte nicht riskieren, dass Ella die Wahrheit erfährt. Was für einen Sinn hätte es, wenn sie leidet, bis ich endlich sterbe? Das könnte Monate dauern, und es wäre grausam für sie.«
»Es ist natürlich deine Entscheidung, aber glaubst du nicht, dass es für Ella besser wäre, die Wahrheit zu wissen? Sie ist kein Kind mehr und nimmt es dir unter Umständen übel, wenn du über ihren Kopf hinweg entscheidest.«
»Mag sein.« Kurz leuchtete in Carlottas Augen das alte Feuer auf. »Aber diese eine Entscheidung möchte ich selber treffen. Alles andere werde ich dir erklären, wenn wir später zum Essen gehen. Luca, macht es dir was aus, wenn ich jetzt, wo der Schmerz nicht so schlimm ist, ein bisschen schlafe, damit ich heute Abend ausgeruht bin?«
»Nein.« Luca küsste sie auf die Stirn und ging in sein Zimmer.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich dagegen und atmete ein paarmal tief durch, um den Schock über den Anblick seiner sterbenden Schwester zu verarbeiten. Dann setzte er sich aufs Bett und spielte mit dem Gedanken, niederzuknien und für sie zu beten, doch eine innere Blockade hinderte ihn daran.
Noch ein Jahr zuvor hätte er fest an eine Zukunft Carlottas im Himmel, in den Armen Gottes, geglaubt. Doch nun machte es ihm Mühe, sich selbst davon zu überzeugen.
Sie war seine Schwester, und er wollte sie nicht verlieren, auch nicht an Gott.
»Warum? Warum sie?«, fragte er.
Und bekam keine Antwort.
Später am Abend gingen sie, Carlotta auf Lucas Arm gestützt, langsam zur Strandpromenade. Die Sonne stand tief am Himmel, und obwohl es September war, gab es in den Restaurants und Bars kaum freie Plätze. Sie wählten ein kleines Lokal mit Kerzen auf den Tischen und setzten sich, weil es noch warm genug war, nach draußen.
Carlotta trug eines ihrer schönsten Kleider, hatte sich geschminkt und die Haare gewaschen. Abgesehen von den Spuren, die die Krankheit hinterlassen hatte, wirkte sie fast so wie immer.
Sie bestellten Fisch und unterhielten sich beim Essen über ihre Jugend in Neapel.
»Luca Menici, bitte beantworte mir eine Frage«, sagte Carlotta und legte Messer und Gabel auf ihren leeren Teller. »Liegt dir etwas an mir?«
»Was für eine dumme Frage, Carlotta.«
»Ich möchte nämlich, dass du mir einen Gefallen tust.«
»Im Rahmen meiner Möglichkeiten«, sagte er vorsichtig.
»Ich habe Gott in letzter Zeit oft gefragt, warum er mich so schnell wieder von dieser Erde wegholen will. Ella ist der einzige Sinn in meinem Leben. Was aus ihr wird, wenn ich nicht mehr bin, bereitet mir schlaflose Nächte.«
»Papà wird sich doch um sie kümmern, oder?«
»Nein, Luca.« Carlotta schüttelte den Kopf. »Das ist es ja: Ella wird sich um Papà kümmern. Er erwartet von ihr, dass sie mich nach meinem Tod ersetzt. Als artige kleine Enkelin wird sie das Café führen, das Essen für ihn kochen und die Wäsche für ihn waschen müssen. Aber ich möchte mehr für sie, Luca, viel mehr, als ich
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