Das Jahr der Woelfe
Gesicht und rotem Hals. Doch da hat vor dem Haus des Pfarrers eine Menge Menschen gestanden. Wortlos haben sie ihn angeschaut. Seine Wut ist verflogen. Er hat den Kopf gesenkt und ist durch die Menschenmauer hindurchgeschritten, die sich wie eine enge Schlucht vor ihm auftat.«
»Ob der Doktor ein Heiliger gewesen ist?«, grübelte Konrad. Doch den Vater danach zu fragen, getraute er sich nicht. Den Großvater, ja, den hätte er gefragt.
Sie erreichten den Waldrand. Die Häuserschatten des Dorfes wurden in der Schneenacht sichtbar. Nur dort, wo Nowaks Haus gestanden hatte, ragte wie ein drohender Finger der Schornstein allein in die Luft. Gespenstisch lag die Dorfstraße, verlassen und dunkel.
Während Konrad den kleinen Handkarren aus der Remise zog, trug der Vater die Vorräte aus der Kammer. Schnell war der Wagen gefüllt. Der Schinkenknochen ragte neben dem Säckchen mit Zucker heraus. In den Mehlbeutel steckte Vater die letzte Flasche Korn. Er nahm die Deichsel. Konrad schob.
Noch waren sie nicht aus dem Dorf, da jaulte es plötzlich auf. Helle zerriss die Nacht. Dreimal, zehnmal, vierzigmal. Ein hohler, heulender Ton, dem weit entfernt die Explosionen dumpf folgten.
»Was ist das, Vater?«, fragte der Junge ängstlich.
»Das sind Stalinorgeln, Kind. Aber die Einschläge sind weit weg.«
Er verschwieg, dass sie im großen Wald lagen, den sie noch zu durchqueren hatten, weil er hoffte, dass die Russen das Feuer einstellen würden, bis sie dort waren. Aber die Hoffnung trog.
»Sie schießen in den Wald«, merkte nun auch Konrad.
»Ja. Wir wollen trotzdem hindurch. Der Wald ist groß, Junge.«
Je weiter sie kamen, umso öfter mussten sie sich hinter Bäume werfen. Hin und wieder spürten sie die Stämme beben, wenn es nahebei einschlug. Schlimmer als die Explosionen kam Konrad das furchtbare Heulen der Raketen vor. Weinen rüttelte seinen Körper. Da rief ihn Vater zu sich an die Deichsel.
Erst als sie die große Lichtung verlassen hatten, hörte der Beschuss auf.
Konrad schämte sich wegen der Tränen.
Vater schien es zu merken und tröstete ihn: »Angst haben und weinen, mein Sohn, das ist keine Schande. Wenn du aber trotz Angst und Tränen das vollbringst, was du tun musst, dann bist du ein Mann.«
Er blieb stehen, hob Konrads Kinn und schaute ihn an: »Junge, ich bin froh, dass ich dich bei mir habe. Allein hätte ich es niemals geschafft.«
Gegen ein Uhr kamen sie im Haus der Tante an. Mutter öffnete ihnen die Tür: »Wie gut, dass ihr wieder da seid«, sagte sie. Ihre Augen hatten rote Lidränder.
Hubertus half Vater, die Vorräte auf den Pferdewagen zu laden.
»Wie geht es zu Hause in Berlin?«
»Ich habe seit drei Wochen keine Post, Onkel.«
»Wenn unsere Flucht lange währt, soll euer Haus unser Ziel sein, Hubertus. Das haben wir Bienmanns uns alle vorgenommen. Ich habe mit Kristian noch im Herbst darüber gesprochen. Hoffentlich hat er es noch rechtzeitig geschafft, aus der Tuchler Heide wegzukommen.«
»In ein paar Tagen können wir auf die Höfe zurück, Onkel. Unsere Truppen werden die Russen zurückwerfen«, sagte Hubertus, aber es klang nicht sehr zuversichtlich.
14
Der Morgen lag noch grau und verschlafen, da traten die Kinder aus dem Haus. Lotter schlug ungeduldig mit dem Vorderhuf. Hell klang das Eisen auf der harten Erde.
»Wartet nicht mehr länger«, mahnte die Mutter die Tante, die mit Hubertus neben dem Fuhrwerk herlief und winkte.
»Nein, Agnes, wir brechen am Vormittag noch auf. Vielleicht sind wir auch am Abend bei Katharina in Guttstadt.«
»Uns holt ihr nicht ein«, prahlte Konrad und schwippte mit der Peitsche.
»Ich schirre gleich an«, rief Hubertus. »Wir werden euch bestimmt fangen.«
Konrad lachte nur. Er konnte den großen Vetter aus Berlin gut leiden. Das trübe Licht vermochte noch nicht durch die Wagenplane zu dringen. Finster war es. Kisten und Kasten fühlten sich an wie Eis.
»Schlaft noch ein wenig, Kinder.«
»Es rumpelt zu sehr«, wiedersprach Albert.
»Sieh mal, Vater!« Konrad zeigte mit der Peitschenspitze zur Landstraße hin.
Der Vater richtete sich ein wenig auf.
»Was gibt es?«, fragte die Mutter.
»Wir fliehen nicht allein, Mutter«, gab Hedwig Auskunft.
»Dort auf der Landstraße sind viele Wagen, ganz viele.«
»Neunundneunzig Wagen?«, wollte Franz wissen.
Albert lachte. »Bestimmt nicht. Wie viel siehst du, Konrad?«
»Zwanzig oder mehr.«
»Ich will auch Wagen sehen!«, rief Franz und drängte sich zu Hedwig.
Sie waren
Weitere Kostenlose Bücher