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Das Jahr der Woelfe

Das Jahr der Woelfe

Titel: Das Jahr der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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einen Blick hinein. Zwei Frauen versuchten einen schweren Lederkoffer zu schließen. Hinter dem Schreibtisch hockte ein Mann in goldbrauner Uniform. Er hatte weißes, gewelltes Haar. Jetzt hob er den Kopf.
    »Brennschere!«, schrie Konrad überrascht.
    Vater trat an das Fenster. Kein Zweifel. Es war Olbrischt. Mit dem Knöchel pochte Vater hart gegen die Scheibe. Unwillig blickte Olbrischt zum Fenster herüber und machte wütend ein Zeichen. Doch dann erkannte er Johannes Bienmann. Er schien einen Augenblick verwirrt, sprang aber schließlich auf und öffnete das Fenster.
    »Mensch, Bienmann, wo kommst du denn her?«
    »Na, woher schon, Olbrischt?«
    »Fein, dass du es geschafft hast«, strahlte Olbrischt und schlug Vater auf die Schulter.
    »Ich habe es nicht geschafft, Olbrischt«, widersprach Vater. »Ich will auf das Schiff!«
    »Aber sicher, Bienmann. Ich werde euch gleich vormerken.« Er eilte zum Schreibtisch zurück und kritzelte etwas auf ein Kalenderblatt. Dann rief er zum Fenster hin: »Also, ihr kommt dann morgen vorbei. Dann ist bestimmt wieder ein Schiff da. Die ›Wilhelm Gustloff‹ kehrt ja auch zurück.«
    »Aber du bist morgen nicht mehr da, Olbrischt.«
    Betroffen fuhr Brennschere herum. »Wie meinst du das?«, fragte er unsicher und seine kleinen Augen huschten flink durch den Raum und hätten ihn verraten, auch wenn der Koffer nicht halb gepackt auf dem Stuhl gestanden hätte.
    »Wie ich es sage«, knurrte Vater.
    Olbrischt wandte sich an die beiden Frauen und herrschte sie an: »Verlasst das Zimmer, Olga, Katrin!«
    Sie kicherten und gingen hinaus.
    »Bienmann«, Olbrischt trat nahe heran und flüsterte, »ich habe keine Karten mehr, Bienmann. Ich würde dir ja gerne helfen. Aber es ist nichts zu machen. Das Schiff bricht bald auseinander, so viele Menschen sind schon drauf.«
    Vater biss die Zähne zusammen. Am liebsten wäre er wortlos gegangen. Er warf einen Blick zum Schiff hinüber.
    »Denk an meine Frau, Olbrischt«, mahnte der Vater. »Und stell dir vor, was die Menge dort mit euch macht, wenn sie erfährt, was ihr vorhabt.« Olbrischt rannte im Zimmer auf und ab.
    »Ich will es versuchen«, murmelte er schließlich und ging zur Tür. Keine zehn Minuten waren vergangen, da kehrte Olbrischt zurück, einen Schein in der Hand. Sein Gesicht war gerötet.
    »So«, sagte er, »hier ist der Schein, Nachbar. In einer halben Stunde legt das Schiff ab.«
    »Danke«, sagte Vater.
    Sie hasteten zum Wagen zurück. Eilig packte jeder sein Bündel. Konrad tätschelte Lotter zum Abschied den Hals. Das Pferd hielt den Kopf tief gesenkt. Vater blickte sich nicht um. Er wollte das Pferd nicht mehr ansehen.
    Albert schleppte den Kasten mit Nikolai. Er musste sich plagen. Konrad sah es und fasste zu. »Wir können ihn doch nicht zurücklassen«, sagte der Junge.
    Sie kamen gerade an das Fallreep, als die Männer und Frauen des Büros zum Schiff hinübergingen. Die meisten waren uniformiert. Alle schleppten schwere Koffer. Die Menge vor dem Haus hatte sich zerstreut. Bienmanns traten heran. Ein Matrose versperrte ihnen den Weg:
    »Was wollt ihr? Das Schiff ist besetzt.«
    Vater zeigte den Schein.
    »Passieren lassen«, rief Olbrischt von der Reling her.
    Da gab der Matrose den Steg frei. Die Schiffssirene tutete laut und lang. Franz auf Hedwigs Arm erschrak und begann laut zu schreien. Mutter betrat als Erste den Landungssteg. Plötzlich drehte sie sich um. Ihre Augen waren dunkel vor Angst.
    »Johannes«, keuchte sie, »Johannes, ich will nicht auf das Schiff, ich will nicht! Hörst du!« Sie rannte auf den Kai zurück.
    Vater folgte ihr entsetzt, warf sein Bündel zu Boden und umfing sie. Schluchzen schüttelte ihre Schultern und immer wieder flüsterte sie: »Verzeih mir, Johannes, aber ich kann nicht. Ich kann nicht auf das Schiff.«
    Vater schwieg und strich ihr unablässig über den Rücken. Die Kinder standen eng beieinander, verstört und ratlos.
    »Na, wie ist es? Wollt ihr nun mit oder nicht?«, schrie der Matrose. Doch Vater kümmerte sich nicht um ihn. Da fielen die Trossen. Das Wasser zwischen Kai und Bordwand wurde breiter und breiter.
    Erst Wochen später erfuhren Bienmanns, dass die ›Wilhelm Gustloff‹ zum letzten Mal abgelegt hatte. Ein russisches U-Boot griff auf hoher See an. Mit Mann und Maus versank das Schiff.

23
    Bald hatten sie die Straße erreicht, auf der der Treck ins Land zog. Fuhrwerk an Fuhrwerk. Keine Lücke. Vater wartete in einer Querstraße. Irgendwann würde er sich

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