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Das Jahr der Woelfe

Das Jahr der Woelfe

Titel: Das Jahr der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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dass wir den Ort verlassen müssen?«
    »Wird schon so sein«, war die brummige Antwort.
    Gegen zehn bemerkte Vater eine große Unruhe in den Nachbarhäusern.
    »Korporal«, bat er, »du weißt, dass uns gestern ein Kind geboren wurde.«
    »Was geht das mich an?«
    »Ich habe keinen Wagen mehr, kein Pferd.«
    »Um vier Uhr muss das Dorf leer sein. Was kann ich tun?
    Ich bin Korporal, nicht Kommandant!«
    »Soll ich zum Kommandanten laufen?«
    »Mach, was du willst.«
    Vater verließ den Stall und eilte zu dem Gehöft, in dem die Soldaten und der Kommandant sich niedergelassen hatten. Konrad sah, wie aufgeregt und entschlossen Vater war, und folgte ihm von fern. Auf einmal trat Albert hinter einer Hecke hervor. Er trug irgendetwas unter seiner Jacke, behutsam wie eine Glasschüssel.
    »Albert!«
    Der Junge schaute erschrocken auf.
    »Wohin willst du?«
    »Ich habe Nikolai bei mir, Konrad. Schau ihn dir an; er will immer noch keinen Bissen fressen.« Albert warf einen scheuen Blick in die Runde. Er hütete seinen Nikolai ängstlich.
    Albert schlug die Jacke zurück. »Die Augen«, klagte Albert. »Sieh dir die Augen an.«
    Nikolais durchsichtige rote Iris blickte stumpf wie brackiges Wasser. Die Lider waren verklebt.
    »Was willst du hier mit Nikolai?«
    »Ich gehe zu den Pferden. Der Tierarzt muss doch kommen.«
    »Der Tierarzt ist ein hochnäsiger Offizier, Albert.«
    »Meinen Nikolai muss er heilen, verstehst du?« Albert schlug die Jacke trotzig über das Tier und lief zu der Pferdestation.
    Konrad eilte Vater nach, der gerade in der Kommandantur verschwand. Der Posten hatte sich gegen die gekalkte Wand in die Sonne gestellt und träumte. Er ließ Konrad ungehindert in den Hof. Der Wagen mit dem Tierarzt brummte die Dorfstraße hinauf. Die Tür zum Zimmer des Kommandanten stand eine Spanne weit auf. Der Junge sah die Ecke des blankes Tisches und unter dem Tisch eine Emailleschüssel. Dahinein hatte der Kommandant seine Füße gestellt. Vater trug mit leiser Stimme seine Bitte vor. Der Dolmetscher übersetzte Satz für Satz. Der Fuß hob sich aus der Schüssel. Er war krebsrot. Ein-, zweimal schlenkerte ihn der Kommandant, wickelte ihn in einen weißen Lappen und stöhnte behaglich dabei. Vater schwieg. Lappen und Fuß verschwanden in einem glänzenden, weichen Stiefel. Der Kommandant ließ Vater warten. Dann sprach er ein paar Sätze. Der Dolmetscher übertrug sie in schlechtes Deutsch. Die Faschisten und Militaristen hätten ihm, dem Kommandanten, in Kiew die Frau und zwei Kinder getötet.
    »Ich war nie Faschist und nie Militarist, ich war nie in Russland«, beteuerte Vater.
    »Du Kapitalist!«, radebrechte der Kommandant selber. »Du Pferd, Wagen, Hof.«
    »Ein einziges Pferd«, wandte Vater ein.
    »Ein Pferd ist Kapitalist.« Er fügte in seiner Sprache noch etwas hinzu. Die Stimme des Dolmetschers klang gleichgültig und eintönig.
    »Frau tot, zwei Kinder tot. Du gehen, bistra.«
    Der Kommandant wickelte seinen anderen Fuß in einen Lappen. Er schaute nicht einmal auf, als Vater langsam die Stube verließ.
    »Das ist ihr Tod«, flüsterte er und schien sich nicht zu wundern, dass Konrad auch da war. »Das ist bestimmt ihr Tod.«
    Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Konrad blickte ihn an. Er hatte die Augen nicht zusammengezogen und spürte nicht das ätzende Licht. Sie traten auf die Straße und blieben unschlüssig stehen.
    Plötzlich lehnte sich der Dolmetscher in das Fenster und schrie: »He, Bienmann! Kommandant schreibt Schein. Du kannst bleiben.«
    »Einen Schein! Junge, hörst du? Einen Schein!«
    Er rannte zurück. Noch ehe Konrad das Haus erreicht hatte, trat er heraus und faltete einen weißen Zettel. Sein Schritt war wieder voll Kraft. »Lass uns zu den Pferden gehen, Junge. Ich habe das Auto des Tierarztes gehört.«
    Sie fanden Albert weinend vor dem Gehöft. Er schluchzte und gab auf keine Frage eine Antwort.
    »Bienmann!«, schrie der Korporal. Konrad blieb bei Albert und kniete neben dem Bruder. Doch Albert stieß ihn weg und presste seine Fäuste gegen die Augen. Ein Automotor wurde angelassen, der Tierarzt fuhr wieder fort. Vater und Hubertus traten zu Albert. »Der Korporal hat ihm Nikolai fortgenommen«, erklärte Hubertus.
    »Fortgenommen?«, jammerte Albert. »An den Hinterläufen hat er Nikolai gepackt, mit dem Kopf dort auf den Stein geschlagen, und in den Mist geworfen hat er meinen Nikolai.«
    Albert erstickte sein Weinen mit den Händen.
    »Erschlagen. Meinen Nikolai.«
    »Warum?«,

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