Das Jahr der Woelfe
kleine Salzkörner.
»Der Endsieg?« Die Alte lachte beinahe lautlos, ging zur Tür, wandte noch einmal den Kopf zurück: »Der Endsieg!«
»Ihr fehlen fast alle Zähne«, stellte Konrad fest.
»Sie säuft!«, schimpfte die Apothekerin. »Der Führer wird es schon machen, was meinst du?«
Die Apothekerin füllte die Arznei in eine dunkle Flasche, leckte an einem rot-weißen Schildchen und schrieb den Namen des Vaters drauf.
»So, hier ist es. Und auch der Baldrian für deinen Großvater.« Sie stellte beides auf die Theke. »Wie kommst du zurück nach Leschinen?«
»Nun, ich werd laufen.«
»Steht nicht der Wagen von Olbrischt gegenüber vor Schlebuschs Gasthaus? Ich meine, ich hätte ihn eben noch gesehen.«
Konrad bezahlte das Rezept und den Baldrian und rannte hinaus.
Vor dem gelben Haus stand Brennscheres Wagen mit den beiden Rappen. Ihr nasses Fell glänzte.
Er betrat die Gaststube. Dichter Qualm von starkem, schlechtem Tabak biss ihm in die Augen. In der Ecke saß Janosch allein am Tisch. Konrad trat zu ihm.
»Ja, Jungchen, wie kommst du denn hierher?«
»Wegen Vater. Ich war in der Hirschapotheke.«
»Und willst mit mir zurück?«
»Wenn ich darf?«
»Aber ja doch. Und nass bist du wie eine Katze. He, Gertrud«, rief er der Wirtin zu, »bring dem Burschen etwas Warmes. Fleischbrühe oder so.«
»Fleisch kannst du ruhig weglassen, Janosch«, maulte die Wirtin und stellte eine dampfende Tasse vor den Jungen. Konrad umfasste sie mit beiden Händen und schlürfte.
»Das tut gut«, sagte er.
»Na, dann komm, Jungchen.«
Die Pferde scharrten, als Janosch unbeholfen sein Holzbein auf den Bock des Kastenwagens hob und zur Peitsche griff.
6
Der Regen hatte aufgehört. Von den Zweigen und Blättern jedoch tropfte es unablässig weiter.
Janosch hatte den Jungen in eine raue Pferdedecke gehüllt. Konrad saß eng an den Knecht geschmiegt und hielt die Zügel. Das war leichte Arbeit. Der Wagen fuhr seine Spur. Die Tiere kannten den Weg. Janoschs Peitsche blieb ruhig. Am Zipfel der dünnen Lederschnur wuchs ständig ein Wassertropfen und fiel schließlich auf den Rücken des Pferdes.
»Erzähl mir doch von eurem Lehrer Brook und von Miau.«
»Du kennst doch die Geschichten längst.«
»Bisher hast du immer neue gefunden.«
»Kennst du die, als Miau eine Katze in seiner Jacke fand?«
»In der Miau vor Schreck die Tintenflasche fallen ließ?«
Janosch nickte.
»Hab ich dir schon erzählt, wie Miau einen kleinen schwarzen Kater geschenkt bekam?«
»Ach, das war doch die einzige Katze, vor der Miau keine Angst hatte und die er in seiner Schusterstube gewähren ließ.«
»Siehst du, du kennst sie alle.«
Janosch zog seine Pfeife hervor. Er hielt die Peitsche zwischen den Knien. Den großen Pfeifenkopf füllte er mit körnigem Knaster, zerschlagenen Tabakstängeln, und zündete in der hohlen Hand das Streichholz an. Die leuchtend helle Flamme schien ihm in sein kleines Gesicht.
»Du hast ja schon graue Haare in deinem Bart«, stellte Konrad fest.
Janosch schwieg und paffte.
»Kennst du die Geschichte, in der Miau einem Gespenst begegnet ist?«
»Einem leibhaftigen Gespenst, Janosch?«
»Warte es ab, Junge.«
Die Pferde zogen faul und Janosch schnalzte mit der Zunge.
»Das war im November anno 13. Der Schnee ließ lange auf sich warten. Die Nächte waren schon hell und kalt. Miau kam von Packenberge herüber. Er hatte bis spät in den Abend hinein deinem Großvater Lukas geholfen. Sie bauten gerade an Mirchows Haus.«
»Das Holzhaus am Dorfeingang?«
»Ja, an dem. Miau hatte in seiner Schusterwerkstatt nichts zu tun; denn die Leute hatten ihre Schuhe für den Winter längst flicken lassen. Am Tag nach Martini hatte der Letzte bezahlt. Miau war geschickt und konnte nicht nur schustern. So half er deinem Großvater häufig bei der Zimmerei aus. Mit einem Taler in der Tasche war er auf ein Gläschen Bärenfang in die Wirtschaft gegangen und aus dem einen Gläschen waren drei geworden. Für drei Gläschen brauchte Miau drei Stunden. Er verstand es, den süßen Schnaps bedächtig zu schlürfen. Endlich schulterte er seine Axt, klimperte mit dem Wechselgeld in seiner Hosentasche und sagte: ›Auf Wiedersehen!‹
Erst pfiff er ein Liedchen. Er freute sich an seiner Atemluft, die ihm wie ein Nebelstreif aus dem Munde schoss. Den großen Wald hatte er hinter sich gebracht. Das Dorf lag dunkel wie ein Schattenberg. Miau musste am Friedhof vorbei. Er hörte auf zu pfeifen und wollte den Toten die Ruhe
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