Das Jahr des Hasen
heftige Sprünge, daß es ihm beinah die Brust zerriß und bis in die Zehen zu spüren war, dann blieb es für kurze Zeit ganz stehen, hackte Sekunden später ein paar kleine, kurze Schläge, um danach seine träge Arbeit wieder aufzunehmen. Vatanen mußte sich an den Teppichrändern festhalten, der Fußboden schien unter ihm zu schwanken, Schweiß rann ihm den Nak ken herunter, ihm wurde plötzlich heiß, und der Tep pich schien seinen schwitzenden Körper zu erdrücken.
Wenn ich nur die Augen öffnen könnte, wenigstens eins, dachte Vatanen vorsichtig, wagte es jedoch nicht, der bloße Gedanke erschien ihm zu kühn. Ich muß versuchen, wieder einzuschlafen. Wenn ich doch bis an mein Lebensende schlafen könnte!
Oder war dies vielleicht schon der Tod? Dieser Ge danke amüsierte ihn, jedoch nur für kurze Zeit, dann rann ihm Galle in den Mund, und er mußte sich maßlos anstrengen, um sie wieder hinunterzuschlucken.
Vatanen versuchte, sich über seine Lage klarzuwer den.
Es gab keinen festen Anhaltspunkt, viele Möglichkei ten wogten durcheinander, ohne daß sein Gehirn in der Lage war, eine einzige Idee so gründlich zu erfassen, daß das Ergebnis als Gedanke gelten konnte.
Gleich darauf erschien ihm die Suche nach einem Gedanken ungeheuer amüsant. Was ihm dabei solchen Spaß machte, war ihm schleierhaft, jedenfalls war ir gend etwas daran ungeheuer komisch. Als er dieses seltsame Freudengefühl ergründen wollte, wurde es sofort von schwarzer Trübsal verdrängt, wofür es mehr als genug Gründe gab.
Alles, was ihm durch den Kopf ging, löste sich auf, entglitt ihm. Vatanen hatte plötzlich die Vorstellung, es sei zu Ende, sein Kopf löse sich vom Körper. Das fand er lustig, doch nach kurzer Zeit entfiel es ihm wieder, und dann beschloß er, an etwas Praktisches zu denken.
Welche Jahreszeit mochte jetzt sein? Das wäre über legenswert, abwegig genug und trotzdem praktisch, also: welche Jahreszeit? Konnte er sich das ins Gedächtnis rufen, wenn er intensiv nachdachte?
Ohne es zu merken, hatte er die Augen geöffnet. Er hatte sich so auf das Problem der Jahreszeit konzen triert, daß er getan hatte, was er nicht hatte tun wollen, und es war gar nicht weiter schlimm. Seine verklebten Augenschlitze gaben den Blick frei auf ein Stück Wand dicht unter der Zimmerdecke, ein großes Fenster mit sechs Scheiben, unten vier kleinere, oben zwei größere mit einem Bogen. Es war hell im Raum, er mußte die Augen schließen. Die Lider sind wie die Luken einer Taucherglocke, dachte er und beschloß dann, zu seinen Überlegungen über die Jahreszeit zurückzukehren.
Frühling? Wäre interessant, irgendwie vertraut. Aber warum nicht Herbst oder Januar? Nein, nicht Januar, das sagte ihm gar nichts. Der Sommer auch nicht. Er erinnerte sich an ein Häschen, dann an einen größeren
Hasen, seinen eigenen, schließlich dachte er an Herbst. Danach kam Weihnachten, und nun war er fast davon überzeugt, daß jetzt Frühling war, am wahrscheinlich sten März.
Bei genauerem Nachdenken schien ihm auch das nicht richtig, eher war Spätwinter.
Und dann kam ihm der Mageninhalt hoch. Vatanen biß die Zähne zusammen, um die eklige Flüssigkeit zurückzuhalten. Er befreite sich von dem Teppich und sprang auf, sah auf dem Fußboden zwei weitere Schlä fer, entdeckte unmittelbar vor sich die Tür zur Toilette und stürzte hinein.
Vatanens Magenflüssigkeit klatschte schubweise ins Toilettenbecken. Speichel lief ihm über das Kinn, die Augen quollen aus den Höhlen, der Magen zog sich zusammen wie die Nachgeburt einer Kuh und schien
sich aus seinem wunden Mund herauspressen zu wol len. Sein Herz hämmerte, daß ihm ganz schwindelig wurde.
Dann plötzlich war die Übelkeit vorbei. Vatanen emp fand die süße Gewißheit der alles besiegenden Kraft seines Organismus wie eine erfrischende Dusche. Er hob seinen dunkelroten Blick zum Spiegel und starrte sich an.
Er glich einem Bild, das aus einem Porno-Magazin he rausgerissen war. Vatanen spülte sein verschwitztes Gesicht ab. Er entblößte den Oberkörper und wusch sich mit kaltem Wasser die Achselhöhlen, in seiner Tasche fand sich ein Kamm, mit dem er sich durch die Haare fuhr. Ein dickes Büschel Haare blieb darin hän gen, Vatanen löste es mit steifen Fingern heraus und brach dabei ein paar Zinken ab, dann warf er alles ins Toilettenbecken. Er gurgelte viele Male und spülte sich den Mund, dann betätigte er die Spülung und übergab die ganze
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