Das Jahrhundert der Hexen: Roman
übereinandergelegt.
Sie hatte auf einem Hügel gestanden. Nein, sie war geflogen, denn ihre nackten Füße hatten das Gras nicht berührt. Das Gefühl hatte ihr den Atem genommen und war vermutlich eher physiologischer Natur gewesen. Von überall her, von oben und von unten, hatte sie Lichtreflexe aufgefangen, zunächst nur schwache, dann immer grellere, immer stärkere – als sei sie eine von tausend Spiegeln umgebene Fackel. Als sei sie eine Mutter, zu der, durch das Gras stolpernd, ihre vergessenen und verlassenen, ihre fern von ihr aufgewachsenen Kinder angerannt kamen.
Auf einem klatschnassen Kopfkissen war sie aufgewacht. Mit salzverklebten Wimpern. Das war gestern gewesen …
In der Küche tickte betäubend die Uhr. Plötzlich fiel Ywha etwas ein. Sie stand auf, ging barfuß in den Flur und blieb neben der Eingangstür stehen. Sie hielt sich ihre Uhr mit dem abgeschabten Lederarmband unter die Nase, ein altes Stück, das schon oft repariert worden war.
Ein Geschenk ihrer Mutter, erinnerte sie sich. Vielleicht das einzige. Alles, was Ywha aus der Kindheit geblieben war.
Die Uhr zeigte halb elf. Klawdi war immer noch nicht da. Draußen schwieg die dunkle Stadt. Nur ab und zu durchriss das Geräusch eines Panzers die Stille, der Strahl eines Suchscheinwerfers die Dunkelheit.
Während Ywha auf die Uhr schaute, blieb diese stehen. Der Sekundenzeiger erzitterte ein letztes Mal, dann erstarrte er. Ywha drehte sich zur Lampe um, zog die Uhr auf und klopfte gegen das Glas.
Still steht die Uhr, stumm,
Schon stirbt mein Name, verlischt.
Golden schimmert eine Blume in der Welt aus Stahl,
Tönern schlägt die Stunde, und stumm steht die Uhr.
Wieder stieß sie mehrere Seufzer aus. Irgendwo dort, in der Stadt, im Dunkeln verborgen, in dem schrecklichen Inquisitionspalast, der seine Zähne fletschte, tötete der unergründliche Klawdi Starsh mit aller Konzentration ihre Gefährtinnen, die Hexen.
Kurz wurde ihr unsagbar bang bei dem Gedanken, er könne die ganze Nacht nicht nach Hause kommen. Sie würde weiterhin im Halbdunkel sitzen und warten und grübeln, während er einfach nicht kam.
Nein, er wusste ja, dass sie hier war. Er würde zurückkommen. Bestimmt.
Was bedeutete sie ihm eigentlich? Was zählten ihre Wünsche und Ängste?
Sie war ein Instrument. Ein Spiegel für das Periskop. Die ehemalige Freundin eines leichtsinnigen Jungen, der der Sohn eines alten Freundes war. Dem hatte er den Gefallen nicht verweigern können, dem hatte er helfen müssen …
Sie schüttelte den Kopf, wollte sich diesen Gedanken nicht anvertrauen. Oder an das glauben, wofür sie erst jetzt ein Bild fand.
Dieser Mann war ein aufgegebenes Schloss, majestätisch, aber voller Gespenster. Es ragte so hoch auf, dass seine Spitze in den Wolken verschwand, reichte so tief in die Erde, dass das Geheimfach im Kellerboden nie entdeckt werden würde.
Ywha lächelte schief. Da machten sich wohl ihre Talente für die angewandten Künste bemerkbar, in dieser Neigung, jedem x-beliebigen Bild Schönheit zu verleihen.
Dieser Mann stand ihr unendlich fern. Sie war eine zufällige Passantin in seinem Leben. Sie rief Mitleid hervor, aber kein Mitgefühl, Neugier, aber kein Interesse. Dieser Mann …
Sie erhob sich und schaltete das Deckenlicht ein. Während sie so dastand, freute sie sich darüber, mit der Dunkelheit auch ein gewisses kratzendes Gefühl vertrieben zu haben, eine Sehnsucht, die sie zum Weinen bringen wollte. Sie lächelte dem kleinen Wandspiegel zu: ihrem Bild. Sie wusste bereits, dass sie die Schwelle dieses Hauses nie wieder überschreiten würde, weshalb sie an der Wand entlangstrich, mit der Hand über die Tapete, die Gobelins, die Bücherregale und das Fensterbrett fuhr, als wolle sie Abschied nehmen.
Die Tür zum Arbeitszimmer. Diesen Raum hatte sie noch nie betreten. Nicht weil die Tür ständig abgeschlossen gewesen wäre, sondern einfach aus Angst. Als fürchte sie, auf dem Schreibtisch des Inquisitors einen abgetrennten menschlichen Kopf zu sehen.
Vielleicht stand da aber auch nur ein Sofa mit zerschlissenen Kissen und ein Schreibtisch, auf dessen matter Platte ein einziger Kerzenhalter thronte.
Sie wollte nicht schnüffeln. Die schmale Eisenklinke schien sich ihr einfach von selbst in die Hand zu legen. Sie drückte sie hinunter; die Tür öffnete sich leicht. Ywha atmete den Geruch von Papier ein, denn auf dem Schreibtisch türmten sich Mappen aus Karton, Wachstuch und Plastik.
Sie überwand ihre
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