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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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keine Laster mehr gesehen hatte, hatten sich die LKWs wie in einem Fabrikviertel gestaut. Auf offenen Lastern hatten in Zeitungen eingewickelte Tisch- und Stuhlbeine flehentlich gen Himmel aufgeragt. Und überall hatte die Inquisition Stellung bezogen.
    Nicht einmal in die Nähe des Bahnhofs war Ywha gekommen; dasselbe galt für den Busbahnhof. Sehr schnell hatte sie begriffen, dass ein Inquisitor, wenn sie ihn witterte, sie im nächsten Moment ebenfalls witterte. Bisher hatte die Menge sie gerettet; Ywha hatte sich einfach unter die zahllosen fiebrigen, verängstigten und bedrückten Menschen gemischt. In Straßen, in denen auf einen Inquisitor tausend Flüchtlinge kamen, war sie vor Entdeckung sicher. Schon bald hatte sie eine Patrouille von Weitem auszumachen vermocht, worauf sie jedes Mal in die entgegengesetzte Richtung davongestürzt war. Lange hatte sie Glück gehabt. Dann hatte sich allerdings der Abend herabgesenkt, und mit ihm war die Sperrstunde gekommen. Immer mehr Patrouillen waren unterwegs gewesen, immer weniger Verstecke waren ihr geblieben. Tordurchgänge hatten sich als zu unsicher herausgestellt, Haustüren waren mit Zahlenschlössern verschanzt, als wollten sie nach gemeinsamer Absprache Obdachlose daran hindern, es sich auf den warmen Dachböden gemütlich zu machen. Abgesehen davon: Was hätte ihr so ein Dachboden schon genützt? Ein guter Inquisitor witterte eine Hexe aus einer Entfernung von zahlreichen Metern und durch Ziegelmauern hindurch. Um einer Verhaftung zu entgehen, musste sie in Bewegung bleiben, durfte nicht stehen bleiben.
    Und sie war in Bewegung geblieben.
    Vermutlich war es einfach ihr Schicksal, an diesem Abend in die Falle zu gehen. Ein Auto der Inquisition, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte scharf gebremst, sich quer gestellt, ihr damit den Fluchtweg in die leere Straße versperrt und sie gegen die Wand gedrängt; Ywha hatte einen strikten Befehl gespürt: Bleib stehen. Paralysiert durch diesen Befehl, ausgeschaltet und hilflos, hatte sie im letzten Moment den Geschmack von Eisen in ihrem Mund gehabt.
    Vielleicht rührte der von ihrem Blut her. Vielleicht schmeckte so auch ihre Angst. Jedenfalls war es ihr vorgekommen, als zerbeiße sie mit weißen Fuchszähnen das verrostete, unsagbar schwere Schloss ihrer Käfigtür – die gerade eben zugefallen war.
    Da hatte sie sich losgerissen. Die ersten Meter hatte sie auf allen vieren kriechen müssen, weil ihre Beine, noch durch den Befehl gefesselt, ihr den Dienst verweigert hatten. Der Schmerz in den aufgeschürften Händen hatte sie jedoch rasch der Erstarrung entrissen, sie angepeitscht. Ein unbändiger Wunsch nach Freiheit hatte sie aufschreien lassen; Ywha hatte den fremden Willen, der sie gefangen hielt, durchbrochen und mit mahlenden Kiefern einzig den Befehlen ihres blutigen fuchsroten Fells gehorcht.
    Eine halbe Stunde später, als sich die Dunkelheit weiter verdichtet hatte und Ywha völlig ausgelaugt war, hatte sie in einem alten Hof im trockenen Becken eines Brunnens Schutz gesucht. Jäh war die seltsame Stille dieser Nacht mit ihrem feinen Herbstregen vom Quietschen eines Wagens zerrissen worden. Eines Wagens voll von heißen Sandwiches. Das Mädchen mit der ausgelassenen Jacke, das sich überhaupt nicht verändert hatte, war kurz vor ihr stehen geblieben und hatte klimpernde gelbe Münzen aus ihrer Tasche gekramt, um sie konzentriert in die kleine Kinderhand zu zählen …
     
    Ywha erschauderte.
    Die Alte, die Suppe aus dem Blechnapf löffelte, war endlich fertig. Penibel wischte sie den Boden mit einem Brotstück aus, leckte den Löffel sorgsam ab und steckte ihn in ihr Bündel zurück. Als sie ihre Gefährtinnen abschätzend musterte, wandte sich Ywha ab.
    Sie hatte Angst gehabt. Dort, am Brunnen, hatte sie vor allem Angst empfunden, hatte gefürchtet, sie werde zurückgewiesen. Noch mehr Angst hatte sie allerdings davor, aufgenommen zu werden. Und reine Panik hatte in ihr der Gedanke hervorgerufen, sie könne für ihren Verrat bestraft werden.
    Die Hexen hatten sie akzeptiert. Niemand hatte ihr die Zusammenarbeit mit der Inquisition vorgeworfen. Mit keinem Wort hatte man ihr zu verstehen gegeben, dass man Bescheid wusste. Dafür war ihnen Ywha schon dankbar.
    Jemand schluchzte. Ywha hob den Kopf. Das Mädchen mit dem Jogginganzug, das an der Wand saß, weinte lautlos und wischte die Tränen mit den Fäusten weg.
    »Was hast du?«, fragte die Alte heiser.
    »Ich will … zu meiner Mama …«, jammerte

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