Das Jahrhundert der Hexen: Roman
war der längste Abend in Ywhas Leben.
Während der ersten Hälfte war sie völlig allein, in der großen Wohnung am Platz des Siegreichen Sturms , vor dem dunklen Schirm des Fernsehers. Der kalte Sonnenuntergang schickte ein unschönes rotes Licht in Klawdis Wohnung, zum Glück nicht für lange Zeit, denn dann ging die Sonne unter, und Ywha blieb erst im Dämmerlicht, dann in der Dunkelheit zurück.
Irgendwann zwang sie sich aufzustehen, tastete nach der Lampe auf dem Couchtisch, schaltete das Licht an und sah sich im Zimmer um, das nun in einem anderen, nämlich in einem warmen, gelb-orangefarbenen Licht lag. Diese vorteilhafte Veränderung vermochte Ywha jedoch nicht zu täuschen. Sie kehrte zu ihrem Sessel zurück, nahm Platz und starrte weiter auf den dunklen Bildschirm.
Wie oft schon hatte sich ihr Leben verändert? Und jedes Mal von Grund auf und aus heiterem Himmel. Noch hatte Ywha nicht ganz begriffen, was ihr morgen bevorstand, doch ihre Intuition, geschärft durch die Jahre der Odyssee, ließ ihr nicht die geringste Hoffnung.
Sie saß da und überließ sich ganz der Umarmung des weichen Sessels, sie versuchte gar nicht erst, den Strom ihrer langsam dahinplätschernden Gedanken einzudämmen. Einmal noch wollte sie sich gehen lassen. Es war die letzte Gelegenheit.
Sie dachte ans Gefängnis. Denn was auch immer Klawdi sich einreden mochte – und er redete sich etwas ein, daran ließ sich ihrer Ansicht nach nicht rütteln –, ein Gitter, das einmal hinter einer gefangenen Hexe zugefallen war, würde kein Interesse zeigen, sich je wieder zu öffnen. Schon gar nicht im Jahrhundert der Hexen. Schon gar nicht, wenn diese Hexe Ywha Lys hieß.
Vielleicht litt Ywha ja allmählich unter Verfolgungswahn. Oder sogar Größenwahn. Oder unter beidem. Sie saß vor einem schwarzen Fernseher, und in ihrem Innern verfestigte sich die Gewissheit, jedes Gefängnis, jedes Verlies und jede Folterkammer dieser Welt halte sich bereit, alle anderen zu zerfetzen, der Konkurrenz die Eisenstangen einzuschlagen und die Dornen abzubrechen, nur um diesen Fuchs, dieses freie Tier, das nicht anders leben konnte als in Freiheit, hinter die eigenen Gitter zu bringen.
Im letzten Monat war sie um viele Jahre gealtert. Nicht weil Nasar mit ihr Schluss gemacht hatte oder sie mit ihm – sondern weil sie sich von ihrem Traum verabschiedet hatte, in dem es einen Morgen gab, Sonnenstrahlen auf dem Boden und einen geliebten Menschen, der mit Geschirr klapperte. Vielleicht taugte dieser Traum nicht für sie, vielleicht taugte sie auch nicht für diesen Traum. Vielleicht war es aber auch ganz anders, vielleicht war der Traum einfach zu etwas vollkommen Unerreichbarem geworden – und hatte damit seinen Sinn verloren.
Die Welt, die Ywha umgab, hatte sich mit ihr verändert. Früher war sie einfach nur eine Füchsin gewesen, die durch das reife Herbstfeld lief, das sich Blicken wie Schüssen gleichermaßen offen darbot. Es hatte erbarmungslose, berechnende Jäger gegeben, aber auch einen weiten Himmel und einen jungen Tannenwald, in dem sie sich verstecken konnte. Jetzt stand sie weitaus mehr Jägern gegenüber, und das Feld hatte sich in ein gläsernes Schachbrett verwandelt; die Füchsin aber, die sich völlig verausgabt hatte, sah nun Abgründe unter sich und grauenvolle Schluchten, die sich ihr beschränkter Verstand früher nie hätte ausmalen können.
Ywha seufzte. Gestern hatte sie etwas geträumt.
Dieser Traum hatte aus quälenden Sequenzen und Bildern bestanden, die von den verhörten Hexen stammten. Ein Flug über Bäume, brodelnde Brühe, ein Stern, aufgespießt von einer rostigen Nadel, sich auflösende Gesichter, eine unendlich lange Beerdigung, bei der der Tote im Sarg vermoderte, während die Prozession weiter und weiter einherschritt … Im Schlaf hatte Ywha gestöhnt und um Gnade gebeten. Diese war ihr gewährt worden.
Sie hatte geträumt, sie sei schwanger, was ihr jedoch keine morgendliche Übelkeit bereitete; einfach nur Freude hatte sie empfunden. Ihr dicker Bauch kam ihr ganz leicht vor, das ungeborene Kind schien mit ihr zu reden, und süße, fast unerträgliche Liebe schnürte ihr die Kehle ab. Sie hatte von einer Wiege geträumt, vom Geruch des Kindes ausgefüllt, dem betörenden Duft nach Milch. Sie hatte von einer Badewanne geträumt, in deren Wasser eine Blume schwamm. Und von einem Stoffballen, der sich endlos abrollte, ein schneeweißer, heller und zarter Stoff.
Irgendwann hatten sich alle Träume
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