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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Schüchternheit und griff nach der Mappe, die obenauf lag. Sie löste die Bänder, mit der diese verschnürt war, und huschte über bedeutungslose Zeilen: Adressen, Telefonnummern, nichtssagende, ihr unbekannte Namen. Allerlei Formulare, ein Motorradbrief, der vor zehn Jahren ausgestellt worden war.
    War das sein Archiv? Dazu war es aber zu bunt, ganz offenbar brauchte Klawdi die Sachen gar nicht, hatte sie nur zufällig zusammengetragen.
    Ywha seufzte.
    Ganz zuunterst, von den übrigen Papieren erbarmungslos erdrückt, lag eine grüne Wachstuchmappe mit Druckknöpfen. Ywha streckte die Hand danach aus, auch wenn sie selbst nicht wusste, weshalb.
    Sie riss daran. Die Dokumentenpyramide schwankte, fiel jedoch nicht in sich zusammen.
    Die Mappe war bis auf einen schmalen Stapel weißer Blätter und ein dickes Heft mit einem schwarzen Einband leer. Ywha zog die Nase kraus, als sie einen kaum wahrnehmbaren, uralten und schwer zu bestimmenden Geruch auffing. Ein Parfüm?
    Kulturtheorie. Mitschrift von Dokija Sterch, Schülerin.
    »In der Geschichte gibt es viele Beispiele … wenn eine Organisation – oder Struktur im administrativen Sinne – selbst die schönste Lehre entstellt …«
    Seite um Seite blätterte Ywha um.
    »Der kulturwissenschaftliche Aspekt … In Interdependenz zur Religion … Der Hauptgedanke des alten Märchens von der Wanze und der Fliege liegt in …«
    Ein zweimal zusammengefaltetes Blatt segelte aus dem Heft. Hastig hob Ywha es auf und steckte es zurück. Dabei schlug das Blatt auf. Diese Handschrift unterschied sich auf den ersten Blick von jener Dokija Sterchs.
    »Nicht im Kellercafé, sondern in dem neuen Imbiss, um halb zwei, ich zeichne dir auf, wie du hinkommst …«
    Eine einfache Skizze.
    »Djunotschka, jede Minute, in der du dich verspätest, ist ein Nagel in meinen … du weißt es ja selbst. Lass die Doppelstunde ausfallen, bitte. Für immer dein – ich.«
    Ywha befeuchtete sich die Lippen. Ein Zittern überkam sie, als sei sie unerlaubt irgendwo eingedrungen. Doch statt das Heft zurückzulegen, schlug sie es ein paar Seiten weiter hinten auf. Dort fand sie noch einen Zettel, genauer, ein aus einem Collegeblock herausgerissenes Stück Papier, mit ausgefranstem Rand.
    »Djunotschka, stell dich nicht so an, das ist doch nicht meine Schuld. Ich liebe dich, Djun, sei mir nicht mehr böse. Klaw.«
    Ywha schloss das Heft. Sie schaffte es kaum, die verrosteten Knöpfe zuzudrücken. Geschwind, ja, nahezu fiebrig legte sie die Mappe an Ort und Stelle zurück, ganz unten auf den unter Papieren begrabenen Schreibtisch. Gerade als sie die Tür an der Eisenklinke hinter sich zuzog, hörte sie, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.
     
    Klawdi war im Sessel eingeschlafen. Als Ywha mit einem Tablett heißen Tees hereinkam, blieb sie unentschlossen stehen.
    Klawdis Arme ruhten auf den Lehnen. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck einer so schrankenlosen, so bleiernen Müdigkeit, dass Ywha sich auf die Lippe biss. Sie stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch ab und setzte sich vor dem Sessel auf den Fußboden.
    Eigentlich hatte sie ihm sagen wollen … Aber vermutlich war es sogar besser so. Sie würde ihm jetzt alles sagen – und es war viel besser, wenn er es nicht hörte.
    »Klawdi … Klaw …«
    Irgendwo weit entfernt schliefen in ihrem Gehege die weißen Gänse. Mit den warmen Flügeln aneinandergeschmiegt schliefen sie und sahen im Traum, wie sie den Großinquisitor der Stadt Wyshna heldenhaft jagten und bissen.
    »Klawdi.«
    Sie fasste nach seiner Hand. Diese war schwer und schlaff, sie konnte sie lange und völlig ungestraft drücken.
    »Klaw … Verzeihen Sie mir bitte. Ich wollte so gern … Aber es geht nicht. Das … es geht einfach nicht. Nie sind meine Wünsche erfüllbar. Verzeihen Sie mir, Klaw.«
    Sie erhob sich. Bedauernd sah sie zu dem erkaltenden Tee hinüber, lautlos schlüpfte sie in den Flur hinaus und zog unter der Garderobe ihre alte, vor langer Zeit schon gepackte Tasche hervor.
    Ich haben Ihnen nie Schwierigkeiten bereiten wollen, wandte sie sich in Gedanken an ihn. Aber ich kann nicht in Unfreiheit leben. Ich bin freiwillig gekommen – und genauso gehe ich wieder.
    Da sie wusste, dass Klawdi sofort auf das Geräusch der zufallenden Tür reagieren würde, hatte sie vorab das Schloss blockiert.
    Ich habe Ihnen nie Unannehmlichkeiten bereiten wollen. Aber ich würde Ihnen schon bald zur Last fallen. Ich bin eine Fremde für Sie, eine Zufallsbekanntschaft. Ich müsste

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