Das Jahrhundert der Hexen: Roman
rechte Hand streckte sich in Richtung der Hexe aus, bis die Spitzen der angespannten Finger auf Höhe ihrer gemeinen grünen Augen schwebten. Bannerhexen hatten eine fatale Schwäche: Sie orakelten allzu gern.
»Neh…men … Sie … die weg!«, jammerte das Mädchen. Klawdis Finger pressten sich zusammen.
Auch unter der Folter hätte sie vermutlich kaum etwas preisgegeben. Prophezeiungen krochen jedoch ganz von selbst aus ihr heraus. Sie konnte diesen kruden Strom nicht eindämmen – und vermutlich wollte sie es auch gar nicht. Die grünen Augen loderten entrückt.
»Sie … kommt! Sie ist schon auf dem Weg, sie …« Es folgte zusammenhangloses Gemurmel. » Sie schart uns um sich und …« Wilde Schreie, ein seliges Lächeln.
Klawdi schielte in die Schublade des Tisches. Alles in Ordnung, das Aufnahmegerät war eingeschaltet. Er würde sich den Text einprägen. Das eine oder andere dürfte von Interesse sein, selbst wenn vorerst nur ein einziger Hinweis relevant war: »Odnyza!«, schrie das Mädchen, während es den Kopf zurückwarf. »Im Kreis Odnyza. Ja, ja, ja!«
Odnyza , das klang für die meisten Menschen wie Musik. Ein Ferienort, Magnet für Touristen aus aller Welt, endlose Strände, la dolce vita, ein heiliger Traum, ausgebrütet in den langen Monaten des Winters und Herbstes, Geld, das eigens »für Odnyza« abgezweigt und gespart wurde, für Odnyza und in seinem Namen.
Der Kreis Odnyza grenzte an Rjanka. Der zwischenzeitlich eingesetzte Kurator war ein Mann Klawdis, ein treuer und zuverlässiger Kollege. Und da es längst zu spät war, nach Rjanka zu fahren, blieb ihm nur Odnyza, der Kreis Odnyza.
Zehn Sekunden nachdem er den Druck aufgegeben und die Hand weggenommen hatte, stellte das Mädchen das Prophezeien wieder ein. Mit einem schiefen Grinsen versuchte die junge Hexe, die eingebüßte Würde zurückzugewinnen. Denn vormachen konnte sie sich da nichts: Sie hatte sich der Gewalt gefügt und getan, was er von ihr verlangt hatte.
Die Rache ließ nicht lange auf sich warten. »Du wirst dein Leben auch noch in unserem Feuer aushauchen.«
»Ach ja?« Klawdi zog die Augenbrauen hoch. »Verwechselst du mich da nicht mit jemandem?«
»Du stirbst im Feuer«, wiederholte das Mädchen nachdrücklich. »Schade, dass ich nicht dabei sein werde.«
»Fürwahr ein würdiger Anlass zur Wehklage«, bemerkte er.
Die Hexe beruhigte sich jedoch nicht, sondern fuhr mit ihrem lautstarken Lamento auch dann noch fort, als man sie bereits den Gang entlangführte. »Ins Feuer! Der Großinquisitor teilt das Schicksal der Hexen, ins Feuer, ins Fe…«
Die quietschende Tür schloss sich und würgte damit das Ende des Satzes ab. Für eine Zigarettenpause reichte die Zeit nicht.
Die vierte Inhaftierte war mager und hatte eine Hakennase. Der dunkle Mantel hing an ihr wie an einem Kleiderständer. Sobald sie Klawdi erblickte – eine schwarze Figur, beleuchtet von einer Fackel, die schwarze Kapuze, die starren Augen in den Sehschlitzen –, fing die Frau an zu zittern und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Eine Weile lang starrte er sie verwundert an. Es bereitete ihm Mühe, so wie sonst seinem professionellen sechsten – oder siebten? – Sinn zu vertrauen. »Dyara Luz«, informierte ihn das Protokoll über das Vorverhör. »Leiterin eines Tanzensembles. Vermutlich eine Kampfhexe, deren Klassifizierung schwierig ist, da …«
Klawdi huschte mit den Augen über den Text, bis er ans Ende gelangte, zur Unterschrift. Als er sie las, empfand er eine gewisse Erleichterung. Damit, mein lieber Kurator aus Rjanka, hast du dir dein eigenes Grab geschaufelt. Nun kann ich dich problemlos und ohne jedes Zögern eliminieren, denn einen solchen Lapsus sehen dir selbst deine engsten Freunde nicht nach. Kampfhexe, pah!
»Ich bin keine Hexe«, flüsterte die Hakennasige, die sich das Gesicht immer noch mit den Händen bedeckte. »Das ist ein grauenvoller Irrtum … Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich keine Hexe bin, dass ich …«
»Ich weiß«, versicherte Klawdi seufzend.
Die Frau verstummte. Sie löste die tränenfeuchten Finger von den Wangen und richtete die Augen auf Klawdi. Sie waren vom Weinen geschwollen. »Sie … Ich bin keine … Weshalb?!«
»Die Oberste Inquisition entbietet Ihnen ihre aufrichtige Entschuldigung«, sagte er mit offizieller, monotoner Stimme. »Die für diesen Fehler Verantwortlichen werden aufs Schärfste bestraft werden.«
»Mich …«, schluchzte sie, »… wie eine … zusammen mit …
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