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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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dachte Ywha sehnsüchtig, erlaubte ihren Lippen jedoch nicht, sich zu öffnen. Schweigend schüttelte sie den Kopf.
    »Oder was zu essen?«
    Sie nickte rasch und heftig.
    »Setz dich hier hin … Und entspann dich einfach. Schau dir die Bilder an …«
    Nachdem zunächst ein verstaubter Tennisball, der hinter dem Fuß des Schrankes lag, ihren Blick gefesselt hatte, registrierte sie, dass sie auf der Kante eines weichen, dunkelvioletten Sessels saß, dessen Armlehnen leicht abgerieben waren. Schließlich erweiterte sich ihr Horizont und sie nahm den flachen Tisch mit dem Berg von Zeitschriften, das Sofa mit der rauen Decke darauf und das Rechteck, das das Sonnenlicht auf dem Boden zeichnete, wahr. An der Grenze zwischen Licht und Schatten kroch eine kleine Stubenfliege entlang.
    Ywha seufzte. Erschrocken flog die Fliege zur Decke hoch und zog ihre Kreise unter dem weißen Lampenschirm, an dem Ywha ein schief aufgeklebtes Inserat: »Zoo sucht Wärter, Putzfrau und Elefantenpfleger für den hinteren Teil, Bezahlung nach Stunden …« durchschimmern sah.
    Ywha befeuchtete die ausgetrockneten Lippen und sah sich genauer um. Der Sonnenstrahl fiel durch ein gardinenverhangenes Fenster. Auf dem Fensterbrett stand ein Blumentopf, in dem eine Schaumstoffpalme wuchs, an deren Stamm ein Gummiaffe hochkletterte. Auf der Krone der Pflanze lag wie auf einem Teller ein Tütchen mit rotem Pfeffer.
    Ywha rang sich ein Lächeln ab. Priw pfiff in der Küche, aus dem Hahn plätscherte Wasser, Geschirr klimperte leise. All diese gewohnten Haushaltsgeräusche machten Ywha schwindlig.
    Eine ganze Weile saß sie da, gegen die Sessellehne gesackt, die Augen geschlossen. Wer hätte gedacht, dass das Brodeln von kochendem Wasser in der Küche eine derart betörende Kraft haben konnte? Die gedämpften Schritte, das Klappern des Geschirrs, der Sonnenstrahl auf dem Boden – all das war real. Passierte jetzt. Hier gab es keine Njawken und keine Inquisition, keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur das Rauschen des Wassers und den Geruch gebratenen Fleisches. Und ihr Leben zog sich dahin, solange sich dieser Morgen dahinzog …
    Ihr Lächeln gewann an Zuversicht. Im Sonnenstrahl tanzten Staubkörner. Die bunte Tapete wirkte durch die hier und da angepinnten Fotografien, Bilder und Zeitungsausschnitte noch farbenfroher. Sie stützte sich ab und stand auf.
    Eine Eisbahn im Winter, auf der eine Frau tanzte, deren Bekleidung einzig aus Schlittschuhen und einem roten Schal um den Hals bestand. Ein rosafarbenes Schweinchen mit absolut skeptischer Miene, das auf einem kleinen Computerbildschirm thronte. Ein braun gebrannter Priw in verwaschener Badehose auf einem Bock aus dem Sportunterricht, der in einem Fluss stand. Das nächste Foto: derselbe Bock, auf dem sich diesmal jedoch vier Personen zwängten, drei Männer und ein Mädchen von etwa zwölf Jahren; auf ihren ausgestreckten Armen lag eine Riesenschlange, allem Anschein nach eine echte.
    Eine Ecke der Aufnahme war akkurat mit einer Nadel durchbohrt. An einem strammen Faden baumelte ein blauer Busfahrschein, ein Plastikring, wie ihn Schüler für den Gewinn bei einem Quiz erhalten. Und ein Päckchen Brausepulver. Glücksbringer, die einzig für den Besitzer von Bedeutung waren.
    Ein Strand am Meer. Eine halb zerfallene Sandburg, vor der ein trauriger, fünfjähriger Junge saß, nackt, das Barett eines Astrologen über ein Ohr gezogen und mit einem Fernglas auf den Knien.
    Drei Personen, die ein riesiges Dreieck bildeten, in dessen Mitte …
    Ywha prallte zurück, konnte den Blick jedoch nicht von dem Bild wenden.
    In der Mitte des Dreiecks lag eine Frau mit seltsam deformiertem Körper im Gras. Das Gesicht hatte sich in den Schädel eingedrückt, die Augen glibberten über die Stirn. Eine aufblasbare Puppe, aus der alle Luft entwichen war.
    Beinahe hätte Ywha die Kontrolle über sich verloren. Sie wollte aufstöhnen, bekam jedoch keine Luft, als sei ihr Hals mit Watte verstopft. Die letzte Nacht würde für immer in ihrem Gedächtnis bleiben. Jetzt erst recht.
    Die nächste Aufnahme, überraschend großformatig, zeigte einen älteren Mann auf dem Asphalt, inmitten einer Blutlache. Ein hellgelber Vordruck baumelte an ihm: »Tod … durch Fall aus großer Höhe … infolge des Kontakts mit einer Njawka …«
    Dann ein Mann in mittleren Jahren im nassen Trainingsanzug auf einem Gulli. »Tod … durch Ertrinken … infolge des Kontakts mit einer Njawka …«
    Eine Badewanne, randvoll mit

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