Das Janus-Monster
Die andere Welt war gefährlich, und Shao hatte einfach den inneren Drang gespürt, noch einmal an den Ort des Geschehens zurückkehren zu müssen. Das war bei ihr wie ein starker Trieb, gegen den sie nicht ankämpfen konnte. Sie hoffte nur, dass die Magie noch nicht verschwunden war. Wenn sie sich abgebaut hatte, war alles vergebens.
Der Fahrer hielt sich an die Tempolimits. Es dauerte eine Weile, bis das Ziel erreicht war. Shao sah die Reklame schon aus einer gewissen Entfernung. Sie wollte nicht, dass der Fahrer direkt vor dem Lokal stoppte, und bat ihn, anzuhalten.
»Aber wir sind noch nicht…«
»Ich gehe den Rest zu Fuß.«
»Wie Sie wollen.«
Shao bezahlte, stieg aus und zerrte die Tasche hinter sich her. Wenn eben möglich, wollte sie nicht auf dem normalen Weg das Nippon Food betreten, sondern von der Rückseite her. Es musste einen Hintereingang geben, das war bei allen ihr bekannten Lokalen so, und sie hoffte, dass er nicht verschlossen war. Als Einbrecherin wollte sie nicht auffallen.
Erst als Wagen und Fahrer außer Sicht waren, setzte sich Shao in Bewegung. Die Häuser hier standen dicht beisammen. Es war wirklich keine tolle Gegend, nicht für Touristen, die ihr Vergnügen suchten. Alte Häuser mit heruntergekommenen Fassaden. Wenig Licht, das einen stumpf wirkenden Schein verbreitete, der sich hin und wieder über die grauen Fassaden legte.
Shao ging schnell und so leise wie möglich. Ihre Schritte wirkten wie die einer großen Katze. Sie suchte eine Lücke auf ihrer Seite und fand sie auch. Direkt hinter einem von der Hauswand weghängenden Reklameschild sah sie einen Durchlass, der zwei Häuser teilte. Es war eine Gasse, die in die hinteren Regionen dieser Häuserwelt führte. Sie war durch aufgestellte Mülltonnen noch enger gemacht worden. Shao hatte Mühe, sich daran vorbeizudrücken. Um diese Zeit schliefen keine Obdachlosen im Freien, über die Shao hätte hinwegsteigen müssen.
Sie war froh, das Ende der Gasse erreicht zu haben, blieb dort für einen Moment stehen und verschaffte sich einen Überblick.
Sicherheitshalber hatte Shao eine Taschenlampe mitgenommen, die ihr jetzt gute Dienste leistete. Der Lichtkegel traf alles mögliche an Gerümpel, aber er streute auch durch ein recht großes Hinterhofgeviert, zu dem auch die Rückseite des Restaurants zählte.
Dort musste Shao hin. Auf direktem Weg war es nicht möglich.
Anbauten, abgestellte Autos und Schuppen versperrten ihr den Weg. Sie war auch nicht allein, hörte Stimmen, sah die Personen in der Dunkelheit aber nicht. Ihr kam es so vor, als sprächen irgendwelche Schatten, die sich nahe der alten Mauern aufhielten.
Ohne gesehen zu werden, erreichte sie die Rückseite des Restaurants.
Zwei Fenster fielen ihr auch deshalb auf, weil beide vergittert waren. So wollte man wohl Zechprellern den Weg verbauen.
Nach dieser Entdeckung ging Shao davon aus, dass auch die Hintertür abgeschlossen war. Sie hatte recht. Die Tür war zu. Ihr Ärger hielt sich in Grenzen. Shao wusste sich zu helfen, öffnete die weiche Stofftasche und holte einen Pfeil hervor. Die Spitze bestand aus hartem Stahl. Schon ein erster Blick auf das Schloss hatte ihr genügt, um zu sehen, dass es leicht zu knacken war.
Zuvor jedoch zog sich Shao um. Sie bewegte sich geschmeidig und beinahe lautlos. Die Dunkelheit und der Schatten der Rückseite gaben ihr den nötigen Schutz. Sehr schnell war sie fertig, als hätte sie das Umziehen ständig geübt.
Sie trug jetzt die enge Lederkleidung und hatte auch die Halbmaske vor ihr Gesicht gestreift. Es war schon ein anderes Gefühl, das sie durchrieselte. Ein Mensch war in eine andere Haut geschlüpft. Das merkte Shao überdeutlich.
Schlecht fühlte sie sich nicht. Ihr Wille war gestärkt. Sie war zum Phantom aus dem Jenseits geworden, wie man sie mal genannt hatte.
Das würde sie ausnützen.
Das Leder lag warm und seidenweich auf ihrer Haut. Von ihm strahlte etwas auf sie über. Schauer durchrieselten sie, während sich Shao mit dem Türschloss beschäftigte. Die harte Spitze des Pfeils reichte aus. Sie klemmte den dreieckigen schmalen Gegenstand in Höhe des Schlosses zwischen die nicht ganz so fest schließende Tür, drückte ein paar Mal und achtete auch darauf, dass sich das Metall nicht verbog.
Nein, es hielt. Noch mehr Druck. Das Anhalten der Luft.
Konzentration.
Sie hörte die knirschenden Geräusche, als das Holz nachgab. Das Schloss hielt nicht mehr, die Tür zitterte, dann war Shao in der Lage, sie nach
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