Das Jesus Video
Standpunkt aus hatte sie die Frage offenbar noch nicht durchdacht.»Wahrscheinlich würde man erwarten, daß er die Wüste auf dem schnellsten Wege zu verlassen versucht.«
»Und was hieße das in unserem Fall?«
»Den Weg zurückzugehen, den wir mit dem Auto gekommen sind.«
Stephen hob nur die Augenbrauen. Diesen Weg hatten auch Kauns Leute genommen, und sie würden ihn irgendwann und irgendwie wieder in umgekehrter Richtung befahren. In einfachen Worten: er verbot sich von selbst.
»Oder zu versuchen, auf schnellstem Weg die Sinai-Straße zu erreichen«, fuhr Judith fort.»Nach Westen.«
»Ja.«Stephen seufzte. Das alles lief auf Konsequenzen hinaus, die ihm überhaupt nicht gefielen.»Das würde man erwarten.«
Sie sahen zu, wie die Sonne unterging. Es dauerte nur Minuten, von dem Moment an, in dem die Sonne die Bergkämme berührte, bis zu dem Moment, in dem sie dahinter verschwunden war. So etwas wie Dämmerung schien es hier in der Wüste nicht zu geben: Es wurde mit einem Schlag dunkel. Und kühler, weil das direkte Sonnenlicht nicht mehr auf einen einbrannte. Stephen berührte mit der Hand sein Gesicht. Es prik-kelte ein wenig. Wenn er zu Hause schwimmen ging, legte er sich danach für gewöhnlich eine Runde auf eine Sonnenbank, und wenn sich nach dem Ablauf der eingestellten Zeit die UVRöhren ringsherum abschalteten, fühlte es sich so ähnlich an.
Der Wind hatte fast gleichzeitig mit dem Sonnenuntergang aufgehört. Die Luft war noch warm, und man spürte die Hitze, die die Steine im Lauf des Tages gespeichert hatten und nun wieder abstrahlten, aber es war beinahe angenehm. Sterne wurden sichtbar, füllten in verschwenderischer Pracht nach und nach den Himmel, wie man es in bewohnten Gebieten nie zu sehen bekam. Die Sichel des zunehmenden Mondes mitten darin spendete sanftes Feenlicht.
Nacht. Sie würden die Nacht nutzen, um zu marschieren!
Die Hubschrauber gaben die Suche auf. Sie hatten Scheinwerfer eingeschaltet, doch man konnte erkennen, daß sie zum Kloster zurückflogen.
»Laß uns nach Süden gehen«, sagte Stephen.
»Du weißt nicht, was du sagst. Das ist der Negev. Das ist eine richtige Wüste!«
»Siehst du den hübschen Stern dort? Auf den laß uns zumarschieren.«
Die in Steinen und Boden gespeicherte Hitze reichte nicht für die ganze Nacht. Irgendwann hörte es auf, heiß zu sein, und wenig später wurde es kalt. Außerdem taten die Füße weh, die Muskeln, jede einzelne Zelle des Körpers. Ihre Körper schrien nach Rast, nach Schlaf.
Und nach Wasser. Der Durst wurde allmählich beunruhigend.
Sie fanden einen Spalt zwischen zwei Felsen, die noch eine angenehme Restwärme von sich gaben und die der ewige Wind glatt und rund geschliffen hatte wie zwei riesige Kiesel. Es tat gut, zu sitzen, auch wenn es nur auf Stein war. Der Mond ließ kühles, bleiches Licht auf sie herabregnen, und das Firmament voller Sterne erstrahlte wie die Diamantkollektion des größten Juweliers des Universums.
Judith ließ den Kopf nach hinten sinken, bis auf den Fels, an den sie sich lehnte, und starrte hinauf.»Jeder Lichtpunkt ist eine Sonne wie die unsere«, sagte sie nach einer Weile leise,»die vielleicht auch auf eine Wüste herabbrennt. Und wer weiß, wer dort gerade unterwegs ist.«
Stephen öffnete den ledernen Beutel und holte das weich eingepackte Bündel heraus. Er wog es nachdenklich in der Hand. Es war unglaublich leicht. Weniger als tausend Gramm bestimmt. Ob es leichter geworden war im Lauf der Zeit?»Ich glaube, ich muß jetzt nachsehen, was darin ist«, meinte er.
»Was?«Judiths Kopf fuhr hoch.
»Am Ende schleppen wir hier nur ein paar Knochen herum«, unkte Stephen und begann, die Verschnürung vorsichtig zu lösen.
Nachdem er die golddurchwirkten Schnüre aufgeknotet hatte, ging er daran, die verzierten Brokatbahnen abzuwikkeln. An manchen Stellen waren die Lagen durch ein paar Stiche miteinander vernäht; diese Fäden zerriß er einfach. Es war ein erstaunlicher Ballen weichen Stoffs, der sich so abwickeln ließ.
Stephen versuchte sich vorzustellen, wie die Zeremonien wohl verlaufen waren, wenn die Mönche, einmal in hundert Jahren, ihr Heiligtum herausgenommen und von der schützenden Umhüllung befreit hatten, damit einer der ihren, der Auserwählte, einen kurzen Blick durch das Okular werfen konnte. Bestimmt hatten sie tagelang gefastet, nächtelang gebetet, bestimmt hatten sie ein prächtiges Ritual entwickelt, das genaue Anweisungen für jede einzelne Handbeweguno
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