Das Jesus Video
alles in Stephen aufschrie dabei.
Scarfaro nahm das kleine Gerät, das kaum größer war als eine Zigarettenschachtel, und wog es nachdenklich in der Hand.
»Die Kirche«, sagte er,»ist, um es in Ihrer Sprache auszudrücken, Mister Kaun, ein multinationaler Konzern, der Sinn produziert -
Lebenssinn für eine Milliarde Menschen. Das ist ein wichtiges Produkt, vielleicht das wichtigste überhaupt. Und ein begehrtes, denn sonst gäbe es uns längst nicht mehr. Sie sehen ein«, fügte er mit einem freudlosen Lächeln hinzu,»daß wir nichts dulden können, das dieses Produkt gefährdet?«
An das, was im nächsten Augenblick geschah, sollte sich Stephen Foxx für den Rest seines Lebens immer nur so erinnern, als sei es in Zeitlupe passiert. In zahllosen Träumen erlebte er diese Sekunde wieder und wieder, sah immer wieder, wie der Mann aus Rom die Hand mit der Kamera anhob, dann herabfuhr, um auszuholen, das kleine Gerät aus dem Schultergelenk heraus in einer kreisförmigen Bewegung nach hinten und nach oben schwang und es schließlich mit ungeheurer Kraft auf den Boden schmetterte, wo es in hundert Stücke zersprang. Jemand schrie auf, Kaun. Im nächsten Sekundenbruchteil hatten die beiden Priester rechts und links von Scarfaro Revolver in der Hand und sahen überhaupt nicht mehr wie Priester aus, sondern wie zu allem entschlossene Revolvermänner in Priesterröcken. Ein Schuß bellte durch den Innenraum des Lastwagens, so laut, daß es weh tat, und Kaun prallte zurück, sich den Arm haltend, und Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch.
»Was tun Sie da?!«heulte er auf.»Scarfaro, was tun Sie?!«
Der Priester mit der Hakennase gab sich noch nicht zufrieden mit dem zertrümmerten Gerät, er hob ein Bein und stampfte mit dem Schuh auf die Splitter ein. Es knirschte, als ob Knochen brächen, es splitterte und knallte, Metall kratzte heulend über Metall, Bruchstücke schössen davon und prallten von den Wänden ab. Dann bückte er sich und hob hoch, was das Herzstück der Videocassette gewesen sein mochte, eine runde, dünne Scheibe aus einem durchsichtigen, schimmernden Material — war das Silizium? -, hob sie hoch und brach sie, einen erbarmungslosen Ausdruck auf dem Gesicht, mittendurch.
»Die Heilige Schrift ist vollkommen«, sagte er.»Das haben wir die Menschen seit Jahrhunderten gelehrt, so lange, bis sie es glaubten, zu ihrem eigenen Heil und Seelenfrieden. Können wir zulassen, daß nun womöglich etwas hinzugefügt werden muß? Wir können es nicht. Dürfen wir es erlauben festzustellen, daß Jesus etwas anderes gesagt hat als das, was überliefert ist? Wir dürfen es nicht. Täten wir es, käme alles durcheinander, wäre dem Zweifel Tür und Tor geöffnet, würde der Glaube zerstört. Aber ohne Glaube gibt es keinen Seelenfrieden. Es ist unsere Pflicht, den Menschen zu ermöglichen, ihren Glauben zu bewahren selbst um den Preis, daß wir selber ihn verlieren.«
Kaun sank langsam, mit schmerzverzerrtem Gesicht, an der Zwischenwand herab. Der Ärmel seines Hemdes färbte sich rot. Nichts erinnerte mehr an die Gestalt des mächtigen, reichen Herrschers über ein Firmenimperium.
»Sie wissen nicht, was Sie getan haben«, stöhnte er.»Sie zerstören ein Dokument, das die Geschichte der Menschheit in unabsehbare neue Bahnen hätte lenken können. Sie töten die Wahrheit. Das hat Ihre Kirche schon immer getan, nicht wahr? Die Wahrheit gejagt und getötet.«
Scarfaro zerbrach die Bruchstücke weiter, bis er schließlich lauter kleine, funkelnde Splitter aus seinen Händen zu Boden fallen ließ.
»Die Wahrheit?«sagte er und sah den blutenden Millionär herausfordernd an.»Die Wahrheit ist, daß die Wahrheit unerheblich ist. Das Christentum hat zweitausend Jahre lang funktioniert, und was so lange funktioniert, funktioniert bis in alle Ewigkeit. Die Wahrheit ist, daß die tatsächliche Person des Stifters keine Rolle spielt. Im Gegenteil, es ist gut, daß der, auf den alles zurückgeht, so unbekannt, so ungreifbar ist wie sonst hätte er zu diesem übermenschlichen Idol werden können? Selbst wenn Ihr Video den echten, wirklichen, den historischen Jesus von Nazareth gezeigt hat: Welches menschliche Wesen könnte es denn aufnehmen mit der Gestalt, die wir geschaffen haben? Nein, wir brauchen dieses Dokument nicht. Es kann nur Schaden anrichten.«
Kaun sank zur Seite. Die Krankenschwester eilte zu ihm. Keiner schoß auf sie, aber Stephen sah, wie der Finger des einen Mannes am Abzug zuckte.
Scarfaro
Weitere Kostenlose Bücher