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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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weitaus mehr Erfolg hatte als ich. Wir haben uns nie aus den Augen verloren, und ein Jahr, bevor ich in die Vereinigten Staaten verschwand, besuchte mich François. Er teilte mir mit, dass er in die französische Loge Groß-Orient eintreten werde, und schlug mir vor, dasselbe zu tun. Ich war zwar grundsätzlich nicht abgeneigt, aber damals sehr von der Krankheit meiner Mutter eingenommen. Und die Vorstellung, zu irgendeinem Verein zu gehören, erschreckte mich. Obwohl ich die Grundsätze der Freimaurerei durchaus ansprechend fand, lehnte ich sein Angebot ab, bestärkte ihn jedoch in seinem Entschluss. Seitdem habe ich nicht aufgehört, zwischen Bedauern und Stolz über meine Entscheidung zu schwanken. Bedauern, weil ich nie den Mut hatte, mich im Bereich der Philosophie oder der Politik zu engagieren; Stolz, weil ich hoffe, mir auf diese Weise einen freien Geist bewahrt zu haben. Zwar hege ich viel Sympathie für die ursprünglichen Prinzipien der Freimaurer, habe aber nicht allzu viel Vertrauen in das, was die Menschen inzwischen daraus gemacht haben. Darauf würde François mir antworten, das beste Mittel dagegen sei, der Loge beizutreten. Er hatte Recht. Wenn es um die Politik ging, hielt er übrigens denselben Spruch parat.
    François erzählte mir damals auch, dass er sich entschlossen habe, eine politische Karriere einzuschlagen und selbstverständlich der linksradikalen Partei beitreten werde. Im Laufe der Jahre machte er Karriere in den üblichen Stationen, wurde Stadtrat, Bürgermeister und schließlich Abgeordneter für die Île-de-France.
    In den elf Jahren, die ich in New York gelebt habe, verging kein Monat ohne Post von François. Ich hatte nicht seine Ausdauer, was die Regelmäßigkeit meiner Briefe betraf, aber meine freundschaftlichen Gefühle für ihn haben nie nachgelassen.
    Irgendwo habe ich ein Exemplar von Alice im Wunderland aufbewahrt, das François mir geschenkt hatte. Eine prachtvolle Ausgabe, mit den Originalillustrationen von John Tenniel. Als Symbol unserer Freundschaft hatte ich ihm genau das gleiche Buch geschenkt. Und jeder von uns hatte sein Geschenk mit einer Widmung versehen. Die Idee stammte aus einem alten Musical mit Gene Kelly und Stanley Donen aus den fünfziger Jahren, das wir beide mochten: In dreißig Jahre würden wir uns vor dem Lycée Chaptal wiedertreffen, jeder mit seinem Exemplar des Romans von Lewis Carroll unter dem Arm. Ein kindliches Versprechen, sicherlich, aber von tiefer Bedeutung. Ahnten wir damals bereits, dass das Leben immer Freunde auseinander bringt, auch die treuesten? Die dreißig Jahre waren noch nicht verstrichen. Ich hütete mein Exemplar von Alice im Wunderland. Und am verabredeten Tag würde ich vor dem Lycée Chaptal stehen, komme, was wolle.
    Gern hätte ich François angerufen, um ihn auf ein Glas Wein einzuladen, und nicht, weil ich ihn um einen Gefallen bitten musste, aber die Umstände waren nun einmal so, wie sie waren, und ich rief ihn noch an demselben Abend an. Nachdem ich mühsam die unzähligen formellen Hindernisse überwunden hatte, die einen Abgeordneten von einem einfachen Bürger wie mich trennten, hörte ich endlich Chevaliers Stimme am anderen Ende der Leitung.
    Ich hatte François bislang weder über meinen Aufenthalt in Frankreich, noch über den Tod meines Vaters informiert, und so klang die Geschichte, die ich ihm erzählte, einigermaßen konfus. Er zeigte sich dennoch verständnisvoll, und ich glaube, mir stiegen Tränen in die Augen. Als ich meine Heimat verließ, hatte ich mich dazu verurteilt, weit entfernt von dem besten Freund zu leben, den mir das Leben je geschenkt hatte, und ich verfluchte die verlorene Zeit. Warum hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, François häufiger zu sehen? Welcher Egoismus hatte mich so lange von ihm fern gehalten? Würden wir je die verlorenen Jahre nachholen können, die ausführlichen Gespräche, die Kinoabende, die Diskussionen über Bücher und die langen Nachmittage auf den Terrassen der Cafés?
    Aber hätte es überhaupt genug Gelegenheiten gegeben, seit er Abgeordneter war? Als ich mit ihm telefonierte, wurde mir klar, wie einsam ich geworden war. Es gibt Formen der Einsamkeit, die man erst im Nachhinein erkennt. Mich überkam das seltsame Gefühl, mit dem Rücken am Rande eines Abgrunds zu stehen. Nun hing alles davon ab, nicht hinunter zu fallen.
    »François«, versprach ich ihm leise, »wenn ich diese irre Geschichte hinter mir habe, werde ich nach Paris kommen und mich um unsere

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