Das Jesusfragment
mechanisch.
Sophie gab die Bestellung auf.
»Also«, fuhr ich fort, »Sie wollten mir erzählen, wie der Stein von Iorden von Harun al-Rashid in die Hände von Karl dem Großen gelangte.«
Sophie warf mir einen freundschaftlichen Blick zu. Es schien ihr Spaß zu machen, dass ich so begierig war zu erfahren, was sie herausgefunden hatte. Die Geschichte des Steins von Iorden war tatsächlich fesselnd, und zudem hatte ich es eilig, zu einem Ende zu kommen. Ich hatte nur noch einen Wunsch: einen Schlussstrich unter das Ganze zu ziehen und wieder aufatmen zu können. Mit ihr eine verdiente Erholung genießen. Uns eine Reise zu gönnen, weit weg von allem. Aber in diesem Augenblick wollte ich alles erfahren.
»Tatsächlich«, begann sie und ließ den Blick durch den Raum schweifen, um sich zu vergewissern, dass niemand uns zuhörte, »ging alles von Karl dem Großen und seinem Bestreben aus, den Beschützer des Christentums zu spielen. Damals waren die Augen aller Christen der Welt auf Jerusalem gerichtet. Doch die heilige Stadt war seit anderthalb Jahrhunderten von den Arabern besetzt.«
»Das dürfte die Dinge nicht erleichtert haben«, vermutete ich.
»Das war weniger schwierig als man annehmen könnte«, gab Sophie zurück. »Wie ich Ihnen gestern gesagt habe, ließen die Muslime die Christen im Allgemeinen in Ruhe und es gelang ihnen, ohne allzu große Probleme friedlich miteinander zu leben. Die einen beteten in der Moschee von Omar, hinderten die anderen aber nicht daran, als Pilger auf den Spuren Christi zu wandeln. Auch der Patriarch von Jerusalem ließ alle möglichen Feste zelebrieren. Dagegen waren die christlichen Gemeinschaften in Palästina häufig den Angriffen der nomadisierenden Beduinen ausgesetzt. Deshalb beschloss Karl der Große, Botschafter zu entsenden, um den Kontakt mit dem Kalifen von Bagdad neu zu knüpfen, damit dieser für die Sicherheit der Christen sorgte.«
»Führte Karl der Große nicht Krieg gegen die Muslime?«
»Nein, nicht gegen diese. Im Übrigen hatten sie sogar gemeinsame Feinde.«
»Nämlich?«
»Das Kalifat von Spanien, das für Karl den Großen eine Invasionsbedrohung und für Harun al-Rashid eine Gegenmacht in der muslimischen Welt darstellte, aber vor allem kämpften sie gegen das byzantinische Reich. Kurz gesagt, Karl der Große und Harun al-Rashid hatten die gleichen Feinde, also besaßen sie eine gemeinsame Verständigungsebene. Daher wurden die fränkischen Abgesandten vom Kalifen von Bagdad würdevoll empfangen. Zwischen 797 und 802 reisten mehrmals Abgesandte zwischen Harun al-Rashid und Karl dem Großen hin und her, und bei jeder dieser Missionen wurden viele Geschenke überreicht. Das berühmteste war ein Elefant, der sagenhafte Aboul-Abbas, den der Kalif dem Kaiser zum Geschenk machte.«
»Ah ja, davon habe ich gehört.«
»Aber am interessantesten ist eine Geschichte von dem Protektorat über die heiligen Stätten.«
»Und das bedeutet?«, fragte ich völlig unwissend.
In diesem Augenblick brachte uns die Kellnerin unsere Getränke. Genussvoll trank ich einen Schluck Whisky.
»Die Historiker sind sich in diesem Punkt nicht einig«, fuhr Sophie fort, »aber im Prinzip soll zu den Gunstbezeugungen, die der Kalif angeblich Karl dem Großen erwiesen hat, auch die Souveränität über Jerusalem gehören. Einige Historiker meinen, Harun al-Rashid habe dem Kaiser die Souveränität über das ganze heilige Land eingeräumt, andere Historiker, wie Arthur Kleinclausz, die meiner Meinung nach realistischer sind, vertreten die Ansicht, er habe ihm lediglich symbolisch ein Protektorat über das heilige Grab, das heißt über das Grab Christi, übertragen. Wie dem auch sei, es war ein starkes Symbol: Der Kalif überließ dem Kaiser die Autorität über das geografische Zentrum des Christentums. Aber Kleinclausz erwähnt nicht, dass Harun al-Rashid diese symbolische Geste noch verstärkte, indem er Karl dem Großen einen bestimmten Gegenstand schenkte.«
»Den Stein von Iorden.«
»Genau. Das Schmuckstück, das Christus gehörte und das sich nach unserer Hypothese seit Generationen im Besitz der Kalifen befand.«
»Wie können wir davon ausgehen, wenn die Historiker dies nicht erwähnen?«
»Ich habe nicht gesagt, die Historiker erwähnen es nicht. Ich habe nur von Kleinclausz gesprochen. Dagegen verweist ein Artikel von Bédier – und Sie dürfen mir glauben, dass ich mich überschlagen habe, um seine Quellen zu überprüfen – in einer Ausgabe der Revue
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