Das juengste Gericht
heißt das konkret?«, fragte Köhler. »Hat er sich wie ein guter Freund um sie gekümmert, oder ist er ihr etwa zu nahe getreten?«
Ein kurzer Hustenreiz erfasste Beuchert. Sein Gesicht verzerrte sich schmerzhaft. Köhler nahm eine halb gefüllte Schnabeltasse auf dem schwenkbaren Tisch neben Beucherts Bett und reichte sie ihm. Beuchert schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht hingeschaut. Verstehen Sie? Ich wollte nicht wissen, was er mit ihr unternahm. Aber ich sah Veränderungen, die in ihr vorgingen. Als ich sie nach Deutschland holte, war sie ein fröhliches Kind gewesen. Jetzt redete sie nichts mehr. Ihr Lachen war plötzlich verstummt. Sie zog sich zurück und vertiefte sich in ihre Malerei. Jedes Mal, wenn sie mit ihm unterwegs gewesen war, rannte sie ins Bad, putzte sich stundenlang die Zähne und wusch sich.«
Schreiner musste schlucken. »Haben Sie Sunita oder Krawinckel nie gefragt, was sie unternommen hätten? Hat Ihre Frau die Wandlungen im Verhalten von Sunita, wie sie von Ihnen geschildert werden, nicht bemerkt?«
Beuchert deutete ein Kopfschütteln an. »Meine Frau hat sich für die beiden Kinder meines Bruders von Anfang an nicht interessiert. Sie vertrat den Standpunkt, dass es meine familiäre Pflicht sei, die Kinder aufzuziehen. Das gehe sie nichts an. Und ich war finanziell von Phillip abhängig. Außerdem hatte er mein Schuldanerkenntnis wegen des Abends mit Lisa-Marie. Deshalb konnte ich es mir nicht leisten, ihn auszuforschen. Dennoch tat mir Sunita leid. Sie wissen gar nicht, wie mich diese Art von Ungewissheit über die Jahre gequält hat. Ich habe sehr darunter gelitten. Genau genommen, leide ich heute noch.«
Mit angewiderter Miene starrte Schreiner Beuchert an. »Hat Krawinckels Frau nie etwas bemerkt?«
»Eines Tages habe ich sie auf die vielen Unternehmungen von Phillip mit Sunita angesprochen. Dabei hatte ich einfließen lassen, dass man sich wohl keine Sorgen machen müsse. Sie reagierte sofort cholerisch und schrie mich an, schon alleine eine solche Idee sei die Ausgeburt eines kranken Gehirns. Ich solle mich schämen, so etwas auch nur scherzhaft zu äußern.«
Die Hände von Köhler umklammerten das Metallrohr an Beucherts Bettende, so dass die Knöchel wie Miniaturen einer Bergkette hochstanden. Seine Wangen glühten. »Herr Beuchert, der Alkohol, die finanzielle Abhängigkeit, Ihre ehelichen Probleme und der Gewissensdruck wegen der Veränderungen Sunitas haben täglich an Ihnen gezehrt. Kann es sein, dass Sie diese vielen unausgesprochenen Belastungen nicht mehr ertrugen und eine teilweise Lösung Ihrer Probleme darin sahen, Sunita an diesem 1. November in der Stadt zu verfolgen und über die Brüstung im achten Stockwerk der Zeilgalerie zu stoßen? Zeit dazu hätten Sie gehabt. Zwischen dem Todeszeitpunkt Sunitas, der sich aus dem Obduktionsergebnis und ihrer stehen gebliebenen Armbanduhr ergibt, Ihrer Rückkehr nach Hause und dem Besuch Krawinckels klafft eine zeitliche Lücke. Oder gab es einen gemeinsamen Plan zwischen Ihnen und Ihrem alten Schulfreund Krawinckel, Sunita zu töten? Sie könnten einverstanden gewesen sein oder den Auftrag an eine andere Person erteilt haben. Immerhin war der Tod Sunitas eine Art seelische Befreiung für Sie.«
Beuchert schloss die Augen. Wieder verteilten sich Tränen über seine Wangen. »Was für ein Unsinn. Ich hing an dem Kind. Mir fehlte nur die Kraft, danach zu handeln. Alles würde ich hingeben, um sie wieder bei mir zu haben.«
Schreiner machte eine wegwerfende Handbewegung. »Immerhin hat Frau Krawinckel darauf verwiesen, dass Sie es gewesen seien, der sich an Kindern vergriffen habe. Trifft es vielleicht zu, dass Sie sich in dem Haus im Vogelsberg außer an Krawinckels Schwester Lisa-Marie auch an Ihrem Adoptivkind Sunita vergangen haben? Die Neigung dazu könnte daraus gefolgert werden, dass Lisa-Marie aufgrund ihrer Geistesschwäche durchaus einem elfjährigen Kind gleichkam.«
»Hören Sie auf damit. Das sind dumme Fantasien. Ich weiß nicht, warum mir Phillips Frau unbedingt etwas anhängen will. Wahrscheinlich ist das die Retourkutsche dafür, dass ich die Begegnungen von Phillip und Sunita mit einem gewissen Argwohn thematisiert hatte. Ich weiß doch nicht einmal, ob das Schuldanerkenntnis, das Phillip von mir verlangt hat, den Tatsachen entspricht. Vielleicht wollte man damit nur irgendwann beweisen, dass ich pervers und mir alles zuzutrauen sei. Dadurch hätte man von anderen Personen ablenken und mir irgendwelche
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