Das juengste Gericht
bei dem Mädchen, das heute Morgen durch einen Sturz ums Leben kam, um Ihre Tochter Sunita handeln dürfte.«
Karin Beuchert rieb weiterhin über ihre tränenlosen Augen. Wolfgang Beuchert schaute Phillip Krawinckel mit offenem Mund an, bevor er sich an die Polizisten wandte. »Wie ist das passiert?« Schreiner gab Köhler ein Zeichen und fixierte Beuchert mit aufmerksamem Blick. Er fuhr mit der Hand über die zahllosen Narben in seinem Gesicht und strich über seinen struppigen gelockten Bart. »Sie ist vom Balkon einer Cafébar gestürzt. Jetzt ist sie in der Gerichtsmedizin in der Kennedyallee. Wir müssen Sie leider bitten, dort hinzukommen und zu bestätigen, dass es sich um Sunita handelt.«
Beuchert starrte vor sich hin. Krawinckel warf einen Blick auf seine Hände, polierte seine Fingernägel an den Hosenbeinen und schaute zu Schreiner. »Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass es Sunita ist? Vielleicht ist es ein anderes Mädchen.«
Köhler schüttelte den Kopf. »Die Kollegen von der Spurensicherung haben in ihren Kleidern einen Schülerausweis auf den Namen Sunita Beuchert gefunden. Es nahm noch einige Zeit in Anspruch, die Wohnanschrift zu ermitteln.«
Während Wolfgang Beuchert mit der Hand vor dem Mund und geweiteten Augen sitzen blieb, sprang Krawinckel auf, nahm Karin Beuchert in den Arm, drückte sie und strich ihr über das Haar. »Wolfgang wird das erledigen. Ich kann ihn gerne in meinem Wagen mitnehmen. Mein Auto steht vor der Tür. Das ist wirklich alles sehr schrecklich.« Dann wandte er sich Wolfgang Beuchert zu. »Es wäre schön, wenn du am Nachmittag zu mir nach Hause kommen würdest. Wir waren schließlich mit unserem Gespräch noch nicht am Ende. Außerdem sind mir gerade ein paar Dinge eingefallen, auf die ich dich dringend aufmerksam machen muss. Falls Karin nicht allein sein möchte, kann sie gerne mitkommen. Ellen, meine liebe Frau, würde sich sicherlich freuen und sich um sie kümmern. Das gilt auch für eure jüngste Tochter, Rupa.«
Wolfgang Beuchert schaute zu Krawinckel auf. »Vielen Dank. Ich nehme mein eigenes Auto. Ob ich heute Nachmittag Karin und Rupa mitbringe, weiß ich noch nicht. Ich komme auf jeden Fall. Um wie viel Uhr soll ich bei dir sein?«
»So gegen 16:00 Uhr. Dann kann ich noch einen kleinen Schönheitsschlaf halten.«
In diesem Augenblick schlich ein zierliches Mädchen mit langen schwarzen Haaren und gesenktem Kopf hinter der Tür hervor ins Zimmer. Bis hin zur Bekleidung verkörperte sie vollkommen das jüngere Ebenbild von Sunita. Unaufhörlich liefen ihr Tränen über die Wangen und tropften zu Boden. Ihre Stimme klang brüchig. »Ich habe alles gehört und gesehen, alles. Keiner von euch fragt, wer das getan hat.«
Schreiner warf Köhler einen viel sagenden misstrauischen Blick zu. »Das Kind liegt leider richtig. Wir haben Anhaltspunkte für die Annahme, dass Sunita nicht freiwillig in den Tod gesprungen ist. Eine abschließende Klärung wird die für heute Nachmittag vorgesehene Obduktion ergeben.«
Rupa drehte sich auf dem Absatz herum und rannte laut schluchzend zur Tür. Im Weggehen murmelte sie weinend:
»Alles Heuchler, Lügner. Auch Onkel Phil.«
Karin Beuchert schaute zu ihrem Mann und Krawinckel.
»Habt ihr verstanden, was sie eben gesagt hat?«
Krawinckel lächelte. »Sie kommt mir etwas aufgeregt vor. Die
Situation überfordert sie.«
Nun wandte sich Karin Beuchert an die Polizisten. »Und Sie?«
»Tut mir leid. Ich war etwas in Gedanken und habe nicht genau hingehört«, sagte Schreiner. »Sagen Sie uns bitte ehrlich, ob es Sie überfordert, wenn wir Sie bitten, uns noch kurz Sunitas Zimmer zu zeigen.«
Karin Beuchert spitzte den Mund. Sie holte tief Luft und ging aufrecht zur Zimmertür. »Wir verstehen alle, dass Sie Ihre Pflicht tun müssen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Der Raum erfüllte alle Ansprüche eines heranwachsenden Mädchens an sein Jugendzimmer. Gemütliche Möblierung, Poster der Popband Tokio Hotel und der Söhne des Schauspielers Uwe Ochsenknecht, eine Stereoanlage, ein Fernseher, Stofftiere. Alles war penibel aufgeräumt. Bis auf den Schreibtisch. Dort lagen Buntstifte und Pinsel, Wasserfarben und Zeichenblöcke. Einige pralle Sammelordner waren aufeinandergestapelt. An deren Rändern schauten die Ecken einiger Bilder heraus, die verrieten, dass Sunita düstere Farben bevorzugt hatte. Schreiner nahm eines der Bilder in die Hand. Seltsame, verfremdete Figuren in verzerrten Haltungen starrten ihm
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