Das juengste Gericht
ihren Terminkalender geschaut, um zu wissen, wann er am Abend mit ihr rechnen konnte. Aufgrund ihrer Tätigkeit als Leiterin der Abteilung Geldhandel bei einer namhaften Frankfurter Bank war ihr Terminkalender häufig bis zum Abend mit Verpflichtungen vollgestopft. So auch heute. Trotzdem wollte sie ihren Frauenarzt aufsuchen. Das bedeutete, dass aus ihrer Sicht etwas Ernstes vorliegen musste.
»Rufe mich bitte sofort an, wenn du vom Arzt kommst«, sagte er. Traudel winkte ab, lächelte und stand auf. »Ich muss los. Wir reden heute Abend. Denke dir ein schönes Essen aus und gehe in die Kleinmarkthalle zum Einkaufen.«
Er hörte kaum zu. »Du bist manchmal wie ein Panzer. Verstehe doch bitte, dass nicht jeder mit solchen Dingen so umgehen kann, wie du es tust. Sage mir wenigstens im Laufe des Tages, was der Doktor diagnostiziert hat. Bitte!«
Sie fuhr ihm mit der Hand über die kurz geschnittene Bürstenfrisur, gab ihm wie immer ein Abschiedsküsschen auf seinen kunstvoll getrimmten Bart und tätschelte ihm die Wange. »Sei lieb! Bis später.«
Schon schlug die Haustür hinter ihr zu. Er stand noch in der Küche, räumte die Spülmaschine ein und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war dunkelgrau wie eine Schieferplatte. Nur schemenhaft war zu erkennen, dass die Wolkenfelder von einem mächtigen Westwind gejagt wurden. Es regnete in Strömen. Weltuntergangsstimmung.
Was bedeuteten derartige Zwischenblutungen? Er hatte keine Ahnung. Leider ließ seine selbstsichere Frau in Angelegenheiten, die sie selbst betrafen, nicht mit sich reden. Immer wiegelte sie nur ab und versuchte, ihn zu beruhigen. Dabei wurde er innerlich immer aufgeregter. Je mehr er in sie drang, umso souveräner gab sie sich. Daran hatte er sich während der gesamten Dauer ihrer Ehe nicht gewöhnen können. Geduld war angesagt, doch die lag ihm nicht. Nicht auszudenken, wenn Traudel eine ernsthafte, eine lebensbedrohende Krankheit hätte.
Mit einem Mal fühlte er, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden könnte. Angst packte ihn. Nicht auch noch Traudel. Genügte es nicht, dass sie schon ihre einzige Tochter im Kindesalter durch Leukämie verloren hatten? Er liebte seine Frau. Seit der Studentenzeit, als er sie im Café Bauer gegenüber der Frankfurter Universität kennen gelernt hatte.
Wie schnell könnte alles, was sie sich aufgebaut hatten, bedeutungslos werden. Das Haus in gehobener Wohnlage am Lerchesbergring im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Voll bezahlt und gediegen eingerichtet.
Was hieß schon Eigentum? Besitz auf Zeit, wäre die richtigere Bezeichnung.
Alles war vergänglich.
Natürlich war er sich bewusst, dass Traudel und er irgendwann nicht mehr aufwachen würden. Aber nicht jetzt. So schnell durfte die Uhr nicht ablaufen. Das wäre ungerecht. Und unerträglich. Ohne Zweifel war es eine Gnade, dass er nicht immer in diesen Zusammenhängen denken musste, nicht jeden Tag und zu jeder Stunde.
Nun gab es dafür einen Grund.
Der Grund hieß Zwischenblutungen.
Er versuchte, sich abzulenken. Im Wohnzimmer setzte er sich in seinen Fernsehsessel und überlegte, ob er eine DVD mit einem klassischen Western einlegen sollte. Das hatte er vormittags noch nie getan, weshalb er bezweifelte, dadurch ein wenig zur inneren Ruhe zu finden. Daher griff er zur Tageszeitung und begann zu lesen. Nach der Hälfte eines Leitartikels fiel ihm auf, dass er dessen Inhalt überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatte, weil seine Gedanken ständig zu Traudel abwichen. Er stand auf, schloss seine Morgentoilette ab und kleidete sich fertig an. Selbstverständlich musste es ein Anzug mit Weste und passender Krawatte sein, in gedeckten Farben. Nachdem er seine Aktentasche zur Hand genommen und die Haustür verschlossen hatte, holte er seinen schwarzen Mercedes aus der Garage und fuhr zur Staatsanwaltschaft in der Frankfurter Innenstadt. In der Tiefgarage der Behörde nahm er den Fahrstuhl zum dritten Stockwerk. Er zog seine goldene Taschenuhr heraus und stellte fest, dass es kurz nach elf Uhr war. Für seine Verhältnisse die übliche Zeit des Dienstbeginns.
Beim Verlassen des Aufzugs warf er einen verstohlenen Blick den Flur entlang in Richtung seines Dienstzimmers. Die davor befestigte Holzbank war noch leer. Er atmete auf, da er insgeheim befürchtet hatte, Köhler würde schon auf ihn warten. Vielleicht hatte ihn sein Kollege Diener allerdings schon zu einer Tasse Kaffee ins Zimmer gebeten.
Am Namensschild neben der Tür war ein
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