Das Kabinett der Wunder
zwei Sorgenfläschchen zu bezahlen.
Dann hockte sie da und blickte auf die Mischung aus Gold-, Silber- und Kupfermünzen. Es fiel ihr auf, dass Gold nur selten aufblitzte. Und die Häufchen waren in den letzten Monaten arg zusammengeschrumpft. Die meisten
Ersparnisse der Familie stammten von der Arbeit, die ihr Vater täglich leistete, wie Hufeisen anpassen und Eisenreifen für Fässer machen. Wie würde sich ihr Leben verändern, wenn er nun nicht mehr arbeiten konnte?
Diese Frage legte sich auf Petras Gemüt wie eine lästige schwere Hand.
Sie langte an den Münzen vorbei und ließ eine kleine Falltür aufschnappen. Dort wuchs ein weiterer Löwenzahn, doch dieses Mal einer aus dem Frühling. Er war gelb und aus hellem Messing gefertigt. Die Blütenblätter kitzelten Petra an den Fingern, als sie die Blüte wie einen Knopf drückte.
Dann zog sie die Hand aus dem Versteck und das Dielenbrett schob sich wieder darüber und verschloss es. Wie ein Schwarm winziger Vögel erhoben sich die silbernen Löwenzahnsamen, stiegen an den Bücherregalen empor, schwebten zu ihrem grünen Stängel und bildeten dort erneut eine vollkommene Kugel. Petra stieg noch einmal die Leiter hoch, um das Buch wieder richtig zu arrangieren. Als die Blume verdeckt war, rannte sie aus der Bibliothek, die Treppe hinunter und aus dem Haus.
Meister Stakan begrüßte sie fröhlich. »Petra! Ich wollte mich gerade auf den Weg zu euch machen.« Er griff nach einem weichen Lederbeutel auf seiner Werkbank. »Wollen wir zusammen gehen?«
»Ja, aber ehe wir losgehen, kann ich da noch etwas bei Euch kaufen?« Sie zog die Münzen aus der Tasche. »Zwei Sorgenfläschchen, bitte.«
»Hmm.« Er überlegte. »Du schläfst schlecht? Stimmt’s?« Er überlegte wieder. Dann drehte er sich um und nahm zwei Flaschen von einem großen Regal, das mit Glasflaschen in allen nur vorstellbaren Formen, Größen und Farben bestückt war. Die Sorgenfläschchen waren klein, knubbelig und mit großen Korken verschlossen. »Aber überleg dir gut, wo du sie aufbewahrst.«
»Natürlich«, sagte sie.
Er klatschte in die Hände. »Dann wollen wir mal gehen.«
In diesem Augenblick kam Tomik mit einem Laib Brot durch die Tür. Sein Blick fiel auf den Lederbeutel. »Sind sie fertig?«
»Ja«, sagte sein Vater und steckte den Lederbeutel ein. »Petra und ich gehen zum ›Kompass‹. Du bleibst hier für den Fall, dass jemand in den Laden kommt.«
Tomiks Finger bohrten sich durch die Brotkruste. »Ich komme auch mit.«
Meister Stakan schnappte verärgert nach Luft.
»Du willst mich bloß nicht dabeihaben«, knurrte Tomik.
»Ich möchte aber, dass Tomik mitkommt«, sagte Petra. In ihrer Stimme lag eine Festigkeit, als hätte sie vergessen, dass sie erst zwölf Jahre alt war.
Meiste Stakan atmete pfeifend aus. Sein Blick wanderte zwischen den beiden Kindern hin und her. Dann meinte er: »Du musst das Brot nicht zerrupfen, Sohn. Komm.«
Doch er machte ein Gesicht wie jemand, der etwas wider besseres Wissen tut.
Die drei verteilten sich um Meister Kronos’ Bett in dem kleinen Zimmer im Erdgeschoss.Als Meister Stakan erklärte, warum er zu Besuch gekommen war, wusste Petra, dass ihr Vater aufgeregt war, obwohl er versuchte, es zu verbergen.
Meister Stakan öffnete den Lederbeutel und ließ zwei Glaskugeln in seine Hand kullern. Petra hatte zwar gewusst, was sich in dem Beutel befand, aber sie verspürte dennoch ein seltsames Ziehen im Magen, als sie die beiden Augen sah - denn genau das waren die Kugeln, zwei weiße Glasaugen mit silberner Iris und einer schwarzen Mitte. Es waren die Augen ihres Vaters - Nein , sagte sie zu sich, das sind nur Imitationen .Trotzdem blinzelte sie die Glasaugen in Meister Stakans Hand an und zitterte vor Aufregung.
Mit der anderen Hand griff Meister Stakan nach dem Verband ihres Vaters. Petra wandte den Blick ab. Als Meister Stakan die Augen eingesetzt hatte, fragte er: »Na?«
Petra blickte wieder zu ihrem Vater. Er sah so normal aus, so vollständig, dass es Petra jetzt erst bewusst wurde, dass sie das Gesicht ihres Vaters nun schon seit sieben Monaten nicht mehr gesehen hatte.
Mikal Kronos seufzte tief auf, er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Ich sehe nichts.«
»Ach.« Tomas Stakans Begeisterung fiel in sich zusammen. »Weißt du, ich hab mir schon gedacht, dass das ein paar Versuche braucht. Das ist viel komplizierter, als Augen für die Zinntiere zu machen. Aber keine Angst. Ich bin ganz sicher, dass es mir
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