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Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
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Stattdessen stellte sie sich neben Susana, die vor Aufregung so blass war, dass ihre Sommersprossen wie braune Sterne in ihrem Gesicht wirkten. Petra ließ es zu, dass sie beide von älteren und größeren Dienerinnen herumgeschubst wurden. Die verstellten den Mädchen die Sicht, schirmten sie aber auch davor ab, von anderen gesehen zu werden.
    Der Burghof war von Fackeln hell erleuchtet. Den Umzug führten die Kinder der Mitglieder des Kreises um den Prinzen an.Wie Feen gekleidet und mit hauchdünnen Flügeln schritten sie feierlich einher. Es kam Petra merkwürdig
vor, wie still sie waren. Wenn man die jüngsten Einwohner von Okno in Feenkostüme stecken und sie auffordern würde, im Städtchen herumzuspazieren, würde dabei jede Menge Unfug passieren. Doch diese Kinder in Davids Alter, und sogar noch jünger, schritten daher, als wären sie, zwar in unangemessener Kleidung, auf dem Weg zu einem Begräbnis. Man hatte ihnen wahrscheinlich Prügel angedroht für den Fall, dass sie ihre Eltern vor dem gesamten Hof blamierten.
    »Ooh«, flüsterte Susana. »Schau mal.«
    Die Hofgesellschaft trat nun aus der Burg, bewegte sich auf den Park zu und machte am Tor Halt. Die Menschen schimmerten vor funkelnden Stoffen und Juwelen und die Gesichter waren hinter Masken verborgen. Viele der Adligen waren wie Märchengestalten gekleidet. Petra entdeckte Iris, verkleidet als Schneekönigin, und beobachtete, wie Rusalka, die Tochter des Wasserkobolds, vorbeiglitt. Da war Finist, der Falke, ein Vogelmann, der die Herzen von Menschenmädchen erbeutete. Koschei, der Untote, schritt einher, niederträchtig, unsterblich und ein Wildpferdreiter.
    Nachdem die ganze Gesellschaft ihre Plätze an der anderen Seite des Vorhofs eingenommen hatte, ertönten Trompeten. Prinz Rodolfo erschien.
    Petra würde Neel eine Krone geben müssen. Der Prinz trug keine Maske. Er hatte sich nicht verkleidet, sondern stellte nichts anderes dar als sich selbst, doch das war genug. Seine Haut war glatt und blass, sein Gesicht anziehend scharf geschnitten. Die Lippen waren überraschend voll und wirkten sanft, wie die Münder der Steinengel, die
Petra in Mala Strana gesehen hatte. Er war schlank und hielt sich sehr gerade. Seine Gewänder bestanden aus einfacher Seide, waren ungefältelt und hatten keine Abnäher oder Rüschen. Doch ihre Farbe löste eine Welle ehrfürchtiger Bewunderung bei der Dienerschaft aus.
    Petra war auf die Wirkung des Rodolfiniums vorbereitet, doch es war ein Unterschied, ob man die Farbe in einer kleinen Schale oder auf vielen Fuß sich kräuselnder Seide verteilt sah. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Doch damit war sie nicht allein. Mehreren Dienerinnen wurde es schwarz vor Augen, auch Susana.Während sie das Mädchen stützte und ihr leicht auf die Wangen schlug, sah Petra nicht, wie der Prinz bis zum anderen Ende des Hofs schritt. Sie blickte erst wieder auf, als der Prinz die Versammlung ansprach:
    »Leute«, rief er. »Ich danke euch, dass ihr mit mir den ersten Tag eines neuen Lebensjahres teilt. Ich bin sicher, dass mit eurer Liebe und Unterstützung mein zwanzigstes Jahr das glücklichste wird, das ich bisher hatte.«
    Das Publikum applaudierte. Prinz Rodolfos Blick schweifte über die Adligen und seine Dienerschaft. Als er ihn in die Ecke richtete, in der Petra stand, zuckte sie so zusammen, dass sie fast Susana losgelassen hätte. Die Augen, die kurz davor waren, ihr ins Gesicht zu sehen, waren silbern. Und sie waren nicht seine eigenen.
    Schau zu Boden! , befahl Astrophil.
    Schnell schlug Petra die Augen nieder und hoffte, dass der Prinz sie nicht bemerkt hatte.
    Doch er hatte sie bemerkt. Er starrte kurz in das nach
unten gewandte Gesicht der jungen Dienerin, dessen Züge nur undeutlich zu erkennen waren. Ihm gefiel, wie sie so entschieden zu Boden blickte, denn er konnte es kaum ertragen, wenn jemand aus der Dienerschaft seinen Blick erwiderte. Doch gleich darauf wurde ihm klar, dass es für seine Befriedigung einen anderen Grund gab, den er nicht gleich erkannt hatte. Er legte den Kopf etwas schräg, als würde er auf eine ferne Melodie lauschen, und ganz langsam dämmerte ihm, dass das Gefühl, das ihn beim Anblick des Mädchens erwärmt hatte, etwas mit den Augen des Uhrmachers zu tun haben musste. Wann immer er sie trug, war sein Urteil darüber, was gut und schön war, so treffend wie ein vollendet abgeschossener Pfeil. Es musste etwas Außergewöhnliches an diesem gewöhnlichen

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