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Das kalte Schwert

Das kalte Schwert

Titel: Das kalte Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Morgan
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Akyia, das Ding, das Seethlaw und Risgillen die Merroigai genannt hatten. Hinter dem albtraumhaften Kopf die Andeutung eines geschmeidigen, annähernd menschlichen Leibes, der sich zu langen, sich wellenden Gliedmaßen teilt, mit Flossen am vorderen Ende. Ein schlanker muskulöser Arm schießt hervor, eine klauenbewehrte Hand greift nach ihm, vielleicht, um ihn vor dem Sturz zu bewahren – aber er weicht zurück wie ein Kind vor der Klaue des Sumpfzorns, und er fällt weiter.
    Noch tiefer hinab.
    Wenn es jemals eine Oberfläche über ihm gab, so ist sie schon längst verschwunden. Die Dunkelheit zerquetscht ihn wie die riesige Würgeschlange aus der Legende. Das Atmen ist eine Mühsal und zwingt ihm flache Züge durch bebende Lippen auf. Seine Augen schmerzen vom Spähen in die Schwärze, aber etwas lässt nicht zu, dass sie sich schließen. Das Gefühl, dass etwas naht, hat ihn nicht verlassen – er spürt es hinter sich herabstürzen,
ausgedehnt, schattenhaft, mit klaffenden Kieferknochen. Und er steckt fest, er fällt weniger, als dass er von einem Foltertisch herabhängt, dessen Form und Ausdehnung er nicht erkennen kann.
    Bleich und lumineszierend ragt etwas drohend aus den Tiefen empor.
    Ein paar zitternde Momente lang hält er es für einen Oktopus, einen dieser gigantischen Tintenfische, die an den Küsten von Lanatray angespült werden, wenn die Sommer stürmisch gewesen sind. Jäh fällt es ihm ein – er selbst mit acht Jahren, ging allein, wie es immer häufiger der Fall war, und benommen über einen regennassen Sand zwischen buckligen, bebenden, durchscheinenden Hügeln einher, die fast so hoch waren wie er selbst. Einige wenige unheimliche Augenblicke in diesem frühen Morgenlicht, bevor sich rasch ein hartköpfiger Pragmatismus durchsetzte, glaubte er – wollte glauben –, dass es vielleicht die flüchtigen Seelen von Walen wären, die von den Harpunieren der hironischen Inseln getroffen worden waren.
    Sie waren es nicht.
    Und das jetzt – er kehrt, sich schüttelnd, in die Gegenwart zurück – ist keine Qualle.
    Es ist ein Stein.
    Bei dieser Erkenntnis scheint der Brocken sich zu beruhigen und hüpft ihm nun wie ein anhänglicher Hund um die Füße. Er möchte ein Freund sein. Eine sanft schimmernde Steinmetzarbeit von der Größe einer kräftigen Männerbrust, auf einer Seite beschrieben mit Buchstaben in alter myrlischer Schrift. Ringil neigt leicht den Kopf und entziffert die Worte:
    … und die Schlüssel einer Stadt größer als …
    Wie etwas, das man auf den Mauern eines zerstörten Tempels im älteren Ende der Stadt, im Sumpfland, gesehen hat,
einen unheimlichen, einst isoliert dastehenden Schrein, der jetzt in einem Meer moderner Häuser ertrunken ist, als Trelaynes sprießende Außenbezirke sich ausgebreitet haben – ein Teil der Steinmetzarbeit ist sehr alt, Jahrhunderte älter als der naomische Aufstieg.
    … die Schlüssel einer Stadt …
    Der Stein steigt nach oben, wie an einem Schiffstau von erschöpften Männern hochgehievt. Kniehöhe, ein zögerlicher Ruck oder zwei, dann erneut hinauf, ein Jagdhund, den jetzt, nach einem Irrtum, sein richtiger Herr ruft. Vielleicht, so denkt er verschwommen, ungenau, sind die Worte gar nicht dazu gedacht, dass er sie lesen soll, und dieses Zusammentreffen von Mann und Stein ist bloß ein Fehlschlag des Schicksals oder dämonische Absicht, ein Schwert, das von einem Schild abrutscht, den es eigentlich zerteilen sollte, ein Axtkämpfer, der eigentlich sicheren Stand hat und doch im Schlamm ausgleitet und sich auf sein Hinterteil setzt, bevor der Schlag trifft. Ein verschontes Leben, wo keine Gnade hätte zuteil werden sollen, eine eingenommene Stadt, die eigentlich gegen die erstürmende Horde hätte standhalten sollen – ein Irrtum im Buch der Tage, irgendwie so ein Mist.
    Im Geiste baut er ein passendes wegwerfendes Achselzucken auf, entdeckt jedoch, dass er zu heftig zittert, um ihm körperlich Ausdruck zu verleihen. Sein Körper fühlt sich wie etwas an, das er nicht mehr besitzt oder nicht mehr richtig beherrschen kann.
    Ihm kommt die Erkenntnis, dass er diesmal wirklich sterben könnte.
    Das Stück Steinmetzarbeit erreicht die gleiche Höhe wie sein Kopf und wackelt dort einen Augenblick hin und her. Blinder Impuls – bevor er es recht begreift, hält er den Stein gepackt. Umarmt die abgenutzten, glatten Konturen mit der Inschrift. Er
fährt mit einer Gewalt durch die Schwärze auf, dass es schmerzhaft an den

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