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Das kalte Schwert

Das kalte Schwert

Titel: Das kalte Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Morgan
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die Sicht, der Geschmack von Erde im klaffenden Mund, und sein Blick blieb als Letztes an etwas hängen, das er vielleicht noch als den eigenen zusammenbrechenden, Blut verspritzenden, kopflosen Leichnam erkennen konnte …
    Der Schwertkämpfer sah den Leichnam fallen und wandte sich dann wieder Gerin zu, der nach wie vor mit gestreckten Beinen auf dem Boden saß und dessen Kopf jetzt nach vorn fiel. Die Gestalt im Mantel hockte sich vor den Jungen, tastete sanft die Wunde rund um den Bolzen ab und verzog das Gesicht. Er legte die Klinge nieder und hob das herabsackende Kinn des Jungen an. Gerin erwiderte seinen Blick verständnislos einen Moment lang, dann erfasste ein kindliches Lächeln die Winkel seines blutverschmierten Munds.
    »Tut nicht mehr weh« , murmelte er. »Sind wir davongekommen?«
    Die Gestalt räusperte sich. »In gewisser Weise, ja. Ja, du bist davongekommen.«
    »Dann ist’s gut.«
    Sie sahen einander noch eine Weile an. Blut lief aus einem Winkel von Gerins lächelndem Mund. Die Gestalt sah es, ließ das Kinn los und legte seine hohle Hand stattdessen auf die zerfleischte, schlammige Wange des Jungen.
    »Kann ich etwas für dich tun, Junge?«
    »Draußen im Sumpf«, sagte der Junge undeutlich. »Salz im Wind …«
    »Ja?«
    »Mutter sagt …«

    »Ja … Gerin, nicht wahr? Was sagt sie, Gerin?«
    »… sagt, komm … nicht zu nah an …«
    Der Schwertkämpfer setzte ein Knie auf den Boden. Wartete. Nach einem Augenblick liefen dem Jungen Tränen aus den Augen und tropften ihm in den Schoß.
    »Verdammt!«, weinte er. »Verdammt sollen alle sein!«
    Er hob den Kopf nicht wieder.
    Ringil Eskiath hielt Gerins Wange so lange, bis er sich ziemlich sicher war, dass der Junge tot war. Dann nahm er sein Schwert und stand schweigend auf. Eine Weile lang schaute er auf den kleinen Leichnam hinab, dann blickte er über die Felsen zu den fernen Lagerfeuern der Sklavenkarawane.
    »Das kann ich wohl für dich tun«, sagte er sinnend.

6
    Vor Anbruch der Morgendämmerung ließ er sich von Kefanin wecken. Er wankte für ein Frühstück nach unten, auf das sein Magen verzichten konnte, und trat unter einem Himmel, der allmählich von Schwarz zu einem dunklen Blau verblasste, in den Innenhof. Die Sonne stand noch immer eine gute Stunde hinter dem Horizont, und eine frische, wüstenhafte Kühle lag in der Luft. Er füllte seine Lungen damit, überquerte den Hof und war selbst überrascht von seinem flotten Schritt, der voll von einer Energie war, die tags zuvor noch nicht darin gelegen hatte.
    Ein Ziel.
    Das erste Mal seit Wochen hatte er ein Ziel.
    Auf dem Boulevard kam er ziemlich rasch voran, denn der Verkehr war ja noch sehr dünn im Vergleich zu dem brodelnden Chaos, das später auf den Straßen herrschen würde. Eine Handvoll Händler mit ihren Karren, einige Sklaven, die Holzbündel für die Küchenfeuer schleppten, vereinzelt ein Kaufmann zu Pferde, der irgendetwas erledigte, wofür er früh auf den Beinen sein musste. Einmal passierte ihn eine Abteilung Soldaten, die irgendwohin zur Musterung marschierte. Egar hörte den Singsang, als sie ihn überholten. Er hielt sie für freie Marodeure aus dem Oberland und musste grinsen, weil er die gut kannte. Er hatte mehrmals an der Seite der Freien aus dem Oberland
gekämpft, hatte sie wegen ihrer bergländischen Stammesmanieren und ihrer Verachtung alles Städtischen gemocht. Mehr als alle anderen imperialen Soldaten hatten sie ihn an sein eigenes Volk erinnert, damals, als das noch nicht etwas derart Schlimmes gewesen war.
    Sie marschierten weiter, zur Eile getrieben von einem berittenen Hauptmann, und ließen Egar in dem grau werdenden Licht zurück. Ihr Singsang verlor sich in der morgendlichen Luft.
    Ein paar Hundert Meter weiter verließ er den Boulevard, überquerte den Fluss an der Graumähnenbrücke und nahm dann den langen, gewundenen Anstieg zum Hügel des Unsterblichen Ruhms. Er erreichte die Kuppe, als die Sonne gerade ihren frisch geschmiedeten glühenden Rand über den östlichen Horizont schob. Eine Pause, damit er wieder zu Atem kam – er musste wirklich demnächst wieder ernsthaft seine Übungen aufnehmen; in den vergangenen Monaten hatte er den meisten Sport mit Imrana gehabt –, dann drehte er sich um und musterte die langen, kahlen Mauern des Gebäudes hinter ihm.
    Die Kaserne der vereinigten Freischar – Reihen von Schießscharten in den oberen Stockwerken, hohe Eisentore zerschnitten den Blick auf das Rechteck des Paradeplatzes.

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