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Das kalte Schwert

Das kalte Schwert

Titel: Das kalte Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Morgan
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Linien und an der Basis überwuchert.
    Einen Augenblick lang erwacht in ihm bei diesem Anblick etwas zum Leben.
    Seethlaw.

    Aber der Kreis ist leer. Alles, was hier geschah, ist längst vorüber, und wenn die Steine davon Zeuge waren, so, wie er sich zu erinnern glaubt, dann haben sie jetzt in dieser Angelegenheit nichts zu sagen. Ringil erhebt sich aus der Stille und dem langen, taubenässten Gras. Er steht dort, spürt wiederum einen Schmerz in der Kehle, und dieses Mal ist es nichts, was jemand anders ihm angetan hat, bloß er selbst.
    Er legt den Kopf in den Nacken, um zu probieren, ob dadurch der Schmerz zu lindern ist, aber es lindert ihn nicht.
    Oben steht Seethlaws sterbende pockennarbige kleine Sonne  – das Ding, das er stattdessen Mooond nannte – hoch an einem schlammfarbenen Himmel und verstreut sein Licht aus zweiter Hand. Fetzen abgerissener Wolken peitschen aus einer Richtung heran, die Westen sein könnte, huschen kurz über sein schwach glänzendes Antlitz, löschen es im Vorüberstreichen fast aus. Zumindest nimmt er an, dass der Wind die Wolken in diese Richtung stößt, so rasch, aber er hat jäh das Gefühl, als würde der Mooond oben in schwindelerregender Schnelligkeit vorübersausen, während der übrige Himmel still steht wie ein Fels.
    Einen desorientierenden Augenblick lang neigt er sich mit und stürzt beinahe.
    Seethlaw.
    Er war seit Ennishmin öfter in den grauen Orten, als er zählen möchte, zurück in der aldrainischen Sphäre, durch die er zum ersten Mal an Seethlaws Seite gewandert war. Er weiß, wie man dort die Toten finden kann, zusammen mit anderen, weniger zuverlässigen Geistern, den Geistern dessen, was hätte sein können oder sollen, wenn nur. Also macht er sich – als würde er einen lockeren Zahn in den sanft blutenden Gaumen seiner Furcht hineinbohren – auf die Suche. Manchmal erhitzt
von Krinzanzdämpfen und wahnsinnig vor allgemeinem Kummer, von dem er nicht mehr weiß, wie er ihn in Schach halten soll, manchmal hellwach und besessen von einem Bewusstsein, das so kalt und klar ist, dass es ihm mehr Angst einjagt als der Wahnsinn. Er macht sich auf die Suche nach den Toten, und sie kommen in hellen Scharen zu ihm, genauso, wie sie es zuvor getan haben. Sie bringen ihre Argumente vor, sie präsentieren ihm ihre Alternativen, so, wie, nein, sieh mal, sie sind gewiss nicht gestorben, das ist Blödsinn, seine Erinnerungen sind falsch, sie sind so lebendig wie er, kann er das nicht erkennen …
    Man debattiert nicht mit den Toten. Das hat er gleich gelernt. Sonst werden sie wütend, errichten Strudel der Wut und Leugnung im Gewebe dessen, was die grauen Orte zusammenhält; wenn man nicht aufpasst, zerren sie einen dorthin mit und beschädigen den feinen Mechanismus der geistigen Gesundheit, der einen in seiner eigenen Version und seinem eigenen Verständnis der Wirklichkeit festhält. Bei Weitem besser, ihnen ihren Willen zu lassen und selbst den eigenen zu behalten. Dazu benötigt man einen gewissen Bewusstseinszustand, so etwas wie die leicht umnebelte und gedankenlose Kompetenz, wie man sie etwas verkatert am Morgen nach einer Nacht verspürt, die erhellt war von Krinzanz und billigem Kneipenwein. Man kommt zurecht, man macht weiter.
    Man sucht weiter.
    Seethlaw hatte er nie gefunden. Er kennt den Grund hierfür nicht, weiß jedoch auch nicht, was er täte oder sagte, wenn er ihn jemals fände. Schließlich waren sie am Ende nicht gerade im Guten auseinandergegangen.
    Aber die Suche ist ein Zwang, ein tiefer, beharrlicher Sog, ebenso wenig beherrschbar wie der tiefe salzige Sog der Strömungen
an der Spitze von Lanatray, wo seine Mutter ihre Sommerresidenz unterhält. Mehr als einmal war er in seiner Jugend viel zu weit hinausgeschwommen und von dem unerbittlichen Griff dieses Flusses gepackt worden. Mehr als einmal hatte er die Küste wie eine flache pechschwarze Linie am Horizont vorüberjagen sehen und sich gefragt, ob er je lebend an Land zurückkehren würde.
    Einmal, nach Jelims Tod, ließ er sich von der Strömung erfassen und kümmerte sich nicht sonderlich darum, was wohl als Nächstes geschähe.
    Dann, so glaubte er sich zu erinnern, hatte das Wasser ihn mit sich getragen, obwohl er alles daran setzte zu ertrinken. Nasse, muskulöse Hände schienen sich unter seinen Hals, seine Brust und seine Oberschenkel zu legen, und während die Sonne sank und das Licht über der Dünung sich zur Dunkelheit verdichtete, entdeckte er, dass die Küste näher

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