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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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unternahm, setzte dabei sein Leben aufs Spiel.
    Wäre es dem Förster gelungen, die Verbindungsmauer zu
    ersteigen, wäre er wohl niemals wieder im Dorf erschienen.
    Die allgemeine Bestürzung in Werst, selbst in Vulcan und
    sogar im Tal der beiden Sil war jetzt größer denn je. Man
    sprach von nichts Geringerem als einer Auswanderung der
    Bewohnerschaft, und einige Zigeunerfamilien zogen wirk-
    lich lieber von hier fort, als länger in der Nachbarschaft der
    Burg zu weilen. Jetzt, wo sie als Zufluchtsort für übernatür-
    liche und verderbenbringende Wesen diente, mochte kein
    Mensch mehr von der ganzen Gegend wissen. Es blieb nur
    der eine Ausweg, nach irgendeinem anderen Teil des Komi-
    tats zu verziehen, wenn sich die ungarische Regierung nicht
    etwa entschloß, das unzugängliche Nest von Grund aus zu
    zerstören – übrigens zweifelten die Leute hier daran, daß
    das Karpatenschloß mit menschlichen Hilfsmitteln allein
    zu zerstören wäre.
    Während der ersten Juniwochen wagte sich niemand aus
    dem Dorf hinaus, nicht einmal, um die nötige Feldarbeit zu
    besorgen. Konnte denn nicht der geringste Spatenstich die
    Erscheinung eines in den Eingeweiden der Erde verborge-
    nen Geistes hervorlocken? Würde die Pflugschar, wenn sie
    die Furchen schnitt, nicht ganze Schwärme von Staffii oder
    Strigen aufscheuchen? Und wenn man Getreide säte, würde
    da nicht Teufelskorn aufgehen?
    »Natürlich könnte so etwas gar nicht ausbleiben!« er-
    klärte der Schäfer Frik in überzeugendem Ton.

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    Er selbst hütete sich weislich, mit seinen Schafen zu den
    Weideplätzen der Sil zurückzukehren.
    Das Dorf stand also unter der Herrschaft des Schre-
    ckens. Die Feldbestellung wurde völlig vernachlässigt. Die
    Leute hielten sich bei geschlossenen Türen und Fenstern im
    Haus auf. Meister Koltz zermarterte sich den Kopf, wie er
    seinen »Untertanen« ein Vertrauen wieder einflößen sollte,
    das ihm selbst fehlte. Das einzige Mittel blieb höchstens,
    nach Kolosvar zu gehen und das Einschreiten der Behörden
    zu verlangen.
    Aus dem Schornstein des Wartturms war übrigens wie-
    derholt eine aufsteigende Rauchsäule beobachtet worden;
    mit Hilfe des Fernrohrs konnte man sie trotz der Dunst-
    massen, die wallend über das Plateau des Orgall hinzogen,
    deutlich genug erkennen.
    Auch die Wolken am Himmel nahmen in der Nacht
    eine rötliche Färbung an, als ob darunter eine Feuersbrunst
    wütete, und mehrmals sah man lodernde Flammengarben
    über das Schloß emporschießen.
    Und dröhnte das Geheul, das Doktor Patek so über die
    Maßen erschreckt hatte, nicht durch die Dickichte des Plesa
    zum Entsetzen der furchtsamen Bewohner von Werst? Ja,
    trotz der großen Entfernung trugen wenigstens die Süd-
    westwinde jene furchtbaren Töne, die am Rücken der Berge
    ihr Echo fanden, gelegentlich bis hierher.
    Nach der Meinung der schon an und für sich ziemlich
    beschränkten Leute sollte auch der Erdboden ein Erzittern
    wahrnehmen lassen, als wäre in der Karpatenkette ein alter
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    Krater wieder aktiv geworden. Alles, was die Werstianer zu
    sehen, zu hören und zu fühlen glaubten, war jedoch stark
    übertrieben. Jedenfalls lagen aber auch greifbare, nicht zu
    bezweifelnde Tatsachen vor, und man wird vielleicht zuge-
    ben, daß diese ausreichten, jedem das Leben in einem so im
    Bann böser Geister stehenden Land zu vergällen.
    Das Wirtshaus zum ›König Mathias‹ blieb natürlich auch
    in der Folgezeit leer. Selbst ein Lazarett zur Zeit einer Epi-
    demie hätte nicht verlassener sein können. Niemand wagte
    es, dessen Schwelle zu überschreiten, und Jonas fragte sich
    schon, ob er nicht aus Mangel an Kunden sein Geschäft
    werde ganz aufgeben müssen, als die Ankunft zweier Rei-
    sender die Lage plötzlich änderte.
    Am 9. Juni gegen 8 Uhr abends wurde von außen auf die
    Klinke der Gasthoftür gedrückt; die Tür öffnete sich jedoch
    nicht, da sie von innen verriegelt war.
    Jonas eilte aus dem Dachstübchen, in das er sich schon
    zurückgezogen hatte, wieder herunter. Mit der ihn erfüllen-
    den Hoffnung, einen Gast vorzufinden, verknüpfte sich al-
    lerdings auch die Furcht, dieser Gast könnte vielleicht ein
    böser Geist sein, dem er Abendessen und Nachtlager ohne
    zu überlegen abschlagen mußte.
    Vorsichtigerweise fing also Jonas, ehe er die Tür öffnete,
    durch dieselbe an zu parlamentieren.
    »Wer da?« fragte er.
    »Zwei Reisende.«
    »Lebende?«
    »Allerdings; sehr lebende.«
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