Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Schlüssel aus. Bereitwillig überließ sie ihm Schlüssel und Fahrersitz. Vor allem in dem Verkehrschaos rund um Madrid war Autofahren ganz sicher kein Spaß!
Justus erkundigte sich nach der Adresse ihres Ziels und gab dann die Daten in das Navigationssystem ein.
»Es wird uns über die Autobahn führen«, bemerkte Isaura. »Die schnellste Strecke eben, was aber sicher nicht die schönste ist. Es gibt schöne Passstraßen über die Cordillera Central .«
»Da brauchen wir länger«, gab Justus zu bedenken. »Aber wenn du willst …«
»Wir haben Zeit, oder nicht?«, gab sie leise zurück.
Justus sah auf die Uhr. »Wenn dieses Tordesillas nicht zu weit von Madrid entfernt liegt und wir es heute noch zu einer annehmbaren Tageszeit erreichen.«
So hatte es Isaura zwar nicht gemeint, doch sie erwiderte nichts und leitete Justus stattdessen auf den richtigen Weg, der sie nach einem Stück Autobahn auf die gewundene Bergstraße entlassen würde.
Zuerst berichtete er, wie es ihm mit seiner Arbeit in den vergangenen Tagen ergangen war. Dass er keine Lust gehabt hatte, für sich allein zu kochen, und stattdessen jeden Abend in einem anderen Restaurant gewesen war. Er zählte ihr jedes Gericht und jeden Wein auf, den er sich bestellt hatte, und beurteilte Geschmack und Qualität.
Isauras Gedanken schweiften ab. Sie hatten die Autobahn inzwischen verlassen und folgten einer schmalen Waldstraße, die sich rasch höherschraubte. Dann blieben die Bäume zurück und gaben den Blick bis weit über das Land unter ihnen frei. Über ihnen jagte ein stürmischer Wind Wolken über die Berge, die immer wieder im rauen Fels hängen zu bleiben schienen. Düster und bedrohlich sahen die Gipfel zu ihnen herab. Dann wieder trat die Sonne hervor und schmeichelte ihnen mit einem leuchtenden Farbenspiel.
Justus sprach noch immer vor sich hin. Sah er die Wunder dieser Landschaft überhaupt, oder war sein Blick nur auf das graue Asphaltband vor ihnen gerichtet?
Endlich schwieg er, und Isaura fiel nichts ein, womit sie die unangenehme Stille hätte durchbrechen können. Worüber hatten sie früher geredet, wenn sie zusammen unterwegs gewesen waren? Oder war einfach nur das Schweigen zwischen ihnen ein anderes gewesen? Ein freundliches, vertrautes, kein angespanntes voller Misstrauen, Angst und Unsicherheit.
Plötzlich kamen ihr Zweifel, warum sich Justus auf den weiten Weg zu ihr nach Spanien gemacht hatte. War er wirklich hier, um mit ihr neu anzufangen? Um das so jäh zerbrochene Vertrauen langsam wieder aufzubauen?
Und wenn nicht?
Panik stieg in ihr auf und wirbelte durch ihren Geist wie die vom stürmischen Wind getriebenen Wolken, denen sie mit jeder Serpentine näher kamen.
Dann wurden sie plötzlich vom Grau verschluckt. Man konnte kaum mehr fünfzig Meter weit die Straße vor sich erkennen. Die Konturen der Felsen verblassten, bis sie gar nicht mehr zu sehen waren. Die Welt schien verschwunden. Die beiden Menschen in ihrem silbernen Kleinwagen und das kurze Stück Straße vor und hinter ihnen war alles, was von der Welt geblieben war.
Justus fluchte laut. »Das war ja wirklich eine tolle Idee! Hätten wir nur die Autobahn genommen! Man kann kaum die Hand vor Augen sehen. Was kommt als Nächstes?«
War sie nun etwa auch am Wetter schuld? Sie befanden sich in den Wolken, na und? Dann mussten sie eben langsam fahren, bis der Blick wieder frei war. Eine unbändige Wut stieg in Isaura auf.
Es fing an zu regnen. Nein, das war zu harmlos ausgedrückt. Von einem Moment auf den anderen prasselten Sturzbäche auf sie herab. Isaura sah auf der Anzeige, wie die Temperatur fiel. Fünf Grad, dann nur noch drei, zwei.
Die ersten Flocken mischten sich unter den Regen, und als sie die Passhöhe erreichten, hüllte Schneetreiben sie ein. Der Sturmwind fuhr brüllend um den kleinen Wagen und zerrte ihn mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Justus steuerte den kleinen Parkplatz zu ihrer Rechten an und stellte den Motor ab.
»Das ist ja nicht zu fassen«, schimpfte er. »Wir haben fast schon April und stecken mitten in Spanien in einem Schneesturm fest. Das ist die reinste Hexenküche dort draußen!«
»Die Berge sind hier bis über zweitausend Meter hoch«, wagte Isaura einzuwerfen und setzte trotzig hinzu: »Als ich sie vor ein paar Tagen überquert habe, hatte ich schönes Wetter.«
»Ach, dann liegt es wohl an mir?«, knurrte Justus und sah sie so anklagend an, dass sie fassungslos den Kopf schüttelte, doch dann wurde ihr klar,
Weitere Kostenlose Bücher