Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Lippen. Auch in Ramóns Blick konnte sie Sehnsucht lesen, wenn sie sich in der Halle oder in einem der Höfe begegneten und er flüchtig ihre Hand streifte. Andere Paare waren weniger schüchtern und lebten ihre verbotenen Sehnsüchte mehr oder minder öffentlich in dunklen Nischen des Palasts aus, doch sowohl Jimena als auch Ramón scheuten sich, die Regeln des Anstands einfach beiseitezuschieben.
So kam der Tag des Abschieds wieder einmal viel zu schnell. Mit Tränen in den Augen versprach Jimena, jeden Tag zu zählen, bis sie sich endlich wieder in den Armen liegen würden.
Sie musste lange zählen! Ach, warum konnten sie nicht einfach zusammen sein? In mancher Nacht lag sie wach und weinte um die verlorene Zeit, die sie nebeneinander aber nicht miteinander verbracht hatten. Sie hatten ihre kostbare Zeit einfach ungenutzt verfließen lassen. Sie war ihnen zwischen den Fingern zerronnen, und nun blieben Jimena nichts als Erinnerungen an seine Berührungen und seine Küsse. Doch nicht nur die Sehnsucht nach Ramón raubte Jimena immer wieder den Schlaf. Albträume suchten sie heim und ließen sie schweißnass aus dem Schlaf schrecken.
Im Frühsommer 1468, Isabel und Jimena hatten bereits ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert, verstärkten sich Jimenas böse Träume. Immer wieder nahm der Tod an ihrem Bett Platz, und der Druck auf ihrer Brust ließ sie kaum mehr atmen. Schweißnass erwachte sie immer häufiger in der Nacht und konnte dann lange keinen Schlaf mehr finden. Sie wusste, dass der Tod nicht in den Palast gekommen war, um sie selbst zu holen, doch das Wissen um das Unausweichliche machte es nicht leichter. Jimena verlor den Appetit, sie wurde blass und so mager, dass selbst Beatriz es bemerkte und sie misstrauisch musterte.
»Was ist mir dir? Lass mich deine Stirn fühlen, ob du dir vielleicht ein Fieber eingefangen hast.«
Jimena wich ein wenig verärgert zurück. »Nein, es ist nichts.«
Doch Beatriz blieb hartnäckig, bis sie ihr gestattete, die Hand auf ihre Stirn zu legen.
»Nein, kein Fieber«, bestätigte Beatriz. »Was ist es dann?« Sie überlegte, dann hellte sich ihre Miene auf. »Ah, ich weiß es. Es ist der Kummer unglücklicher Liebe, der dich verzehrt.«
»So ein Unsinn!«, zischte Jimena, obgleich sie das nicht ganz von sich weisen konnte, selbst wenn es nicht der Grund für ihre schlechten Träume und ihre Appetitlosigkeit war.
Beatriz sah triumphierend zu Isabel, die mit einem Buch in der Hand in der Fensternische saß. »Wann ist Ramón abgereist?«
»Vor vier Wochen ist er nach Segovia zurückgekehrt«, sagte sie, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
»Aha«, meinte Beatriz. »Und seit wann verweigert Jimena das Essen und seufzt im Schlaf?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Isabel ausweichend.
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, rief Jimena fast ein wenig zu wild. »Ramón ist mein Vetter!«
Doch Beatriz konnte man in solchen Dingen nicht täuschen. Sie lächelte wissend und schwieg. Nun aber sah Isabel von ihrem Buch auf und blickte mit ernster Miene zu Jimena hinüber.
»Ich hoffe, er kehrt gesund wieder. Ich habe gehört, der Schwarze Tod habe nun auch in Segovia Einzug gehalten. Wie man sagt, ist der König mit seinem Gefolge deshalb nach Madrid abgereist.«
Beatriz hob verächtlich die Lippen. »Was will er denn in diesem Dorf, wo es kaum mehr gibt als ein paar Rinderhirten?«
»Und einen Alcázar«, ergänzte Isabel schmunzelnd.
Beatriz schnaubte. »Ich habe ihn ja noch nicht gesehen, aber nach dem, was die anderen Damen bei Hof erzählen, kannst du ihn nicht mit dem Palast hier oder gar mit Valladolid oder Segovia vergleichen.«
»Darum geht es im Augenblick auch nicht«, mischte sich Jimena mit ernster Miene ein. »Es geht dem König und seinem Hof darum, dem umherschleichenden Tod zu entrinnen, der von Dorf zu Dorf wandert. Überall Elend und Hunger in diesen Jahren, in denen der Krieg den einen Teil der Felder zerstört und die Dürre den anderen! Da fällte es dem Tod leicht, seine Sichel zu schwingen und reiche Ernte zu halten!«
Die jungen Frauen schwiegen und dachten über Jimenas Worte nach. Noch konnten sie hoffen, dass Ávila und seine Bewohner verschont bleiben würden, doch schon eine Woche später erreichte die Hiobsbotschaft den Palast: Zwei Reisende waren in einer Herberge an der Pest verstorben.
Nun ging es sehr schnell. Immer mehr Häuser meldeten erst das Fieber und dann den Tod. Riesige Gruben wurden vor der Stadt ausgehoben, um die
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