Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
Fenster Bescheid. Sie kletterte aus dem Fenster und versuchte es von außen wieder ranzuziehen. Das klappte aber nicht. Egal, für so einen Firlefanz war jetzt keine Zeit, dann würden die eben schnell merken, aus welchem Loch sie entwischt war. Oh je, beim Blick vom Vordach hinunter bis zur Erde drehte sich sofort alles in ihrem Kopf. Sie war noch nie vom Dreier im Schwimmbad gesprungen und vermied es auch sonst, von oben auf etwas herunter zu schauen. Doch nun blieb ihr keine andere Wahl. Springen schied aus, zu hoch. Sie wollte nicht wie Fredi Kummer enden. Mutig stieg sie über die Brüstung und klammerte sich mit beiden Händen an spitzen Steinen ab. Sie stöhnte leise und rutschte dann vorsichtig durch Gestrüpp und Äste hindurch zu Boden. Als sie unten war, spürte sie ihre Hände kaum noch, so sehr hatte sie in alles Mögliche gegriffen.
Lisas helle Hose war verdreckt und der schöne gelbe Mantel sah mit den reingerissenen Dreiecken auch nicht mehr aus wie der einer Dame. Sie sah aus wie eine Irre. Und das war sie ja auch. Eine Irre, die gerade aus der Anstalt ausgebrochen war. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Keine Menschenseele, immerhin. Vor ihr lag nur Natur, Wälder, eine hügelige Landschaft und viele Zäune. Sie lief los, so schnell wie noch nie in ihrem Leben, schneller als bei den Bundesjugendspielen in der Schule. Lisa rannte und rannte. Je länger sie unterwegs war, desto leichter wurden die Schritte. Es war, als würde sie fortfliegen von all ihren Problemen. Ingmar, Julia, Sebastian. Zwei große Schritte. Der Kampf vor ihrem Fenster. Noch ein Schritt. Das Kellerzimmer, der Typ in ihrem Schlafzimmer. Zwei Schritte. Sie fühlte sich so frei, endlich konnte ihr keiner mehr etwas anhaben. Da vorne war der sichere Wald. Als Lisa hinter einigen Bäumen verschwunden war, blieb sie endlich stehen und hielt sich an einem Stamm fest. Atemlos, aber froh, der Verfolgung durch den Unbekannten entkommen zu sein, verschnaufte sie kurz und ging dann konzentrierten Schrittes weiter.
Hin und wieder drehte sie sich um, doch sie war allein. Endlich. Nichts mehr denken müssen, einfach nur laufen. Die Schulter schmerzte. Bestimmt hatte sie sich beim Runterrutschen vom Vordach verletzt, doch sie merkte es erst jetzt, weil die Handtasche auf der Schulter hing. Der Kopf dröhnte und ihr war schwindelig, aber Lisa wollte nicht stehen bleiben. Ihr Hirn war wie leergeblasen. Es fühlte sich herrlich an, an nichts denken zu müssen. Der Wald war riesig und schnell hatte sie die Orientierung verloren. Irgendwo würde sie schon ankommen. An einem Hügel blieb sie stehen und schaute nach rechts. Unter ihr schlängelte sich ein kleiner und klarer Wasserlauf durch den Wald. Jetzt einen Schluck trinken und sich unten einfach auf einen Baumstamm setzen – das hatte Lisa seit ihrer Kindheit nicht mehr gemacht.
Sie lief hinunter, rutschte aus und geriet ins Stolpern. Auf halber Höhe, etwa zwei Meter vor dem durstlöschenden Wasser, knickte sie so heftig um, dass sie sofort zu Boden ging. Erstaunt registrierte Lisa, dass ihrem offenen Mund kein Schrei entrann. Es war, als hätte sie ihre Stimme verloren, nicht mal ein Seufzen war mehr drin. Mit dem Fuß blieb sie an einem Ast hängen und schlug lautlos der Länge nach auf den Waldboden, die Hände hielt sie schützend vors Gesicht.
Lisa schloss die Augen und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Vielleicht könnte sie einfach wieder ohnmächtig werden, so wie vor wenigen Stunden erst unter der Bettdecke. Aber sie wurde nicht ohnmächtig. Sie konnte sich nicht bewegen, das Bein tat höllisch weh; mit jeder Sekunde wurde es schlimmer. Ihre seltsame Entrücktheit wich einer Panikattacke. Verdammt! Sie war hier ganz allein, keine Menschenseele weit und breit. Hoffentlich war das Bein nicht gebrochen. Vielleicht war es auch ein Bänderriss, das kannte Lisa von Julias Handballerlebnissen. Aber sie konnte den Schmerz nicht richtig lokalisieren, denn jede noch so kleinste Bewegung ließ sie erstarren. Es tat so weh! Sie wollte um Hilfe schreien, brachte aber immer noch keinen Laut zustande. Aber was machte das schon – sie hatte die ganze Zeit niemanden im Wald gesehen.
Erschöpft versuchte Lisa sich zu entspannen und in eine einigermaßen bequeme Liegeposition zu kommen. Ihre Handtasche hatte sie beim Sturz verloren. Weit konnte sie nicht sein. Sobald sie sich etwas gesammelt hatte, würde sie zur Tasche robben müssen, um nach dem Handy zu suchen. Ängstlich, verdreckt und mit den
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