Das Kind der Rache
noch auf der Bank. Sie lächelte ihm
zu.
Ohne ein Wort zu sagen, ging Alex fort. Die flüsternden
Stimmen folgten ihm.
Marty Lewis war aufgewacht. Sie blieb liegen, um den vertrauten Geräuschen des Morgens zu lauschen. Nach einer
Weile wurde ihr klar, daß es noch Nacht war. Das Haus schien
leer.
Ein Nickerchen.
Nachdem Alan das Haus verlassen hatte, hatte sie überall
saubergemacht, dann war sie eingeschlafen.
Sie wälzte sich auf die andere Seite und starrte auf das
Zifferblatt des Weckers. Halb drei. Das bedeutete, daß sie fast
drei Stunden geschlafen hatte. Sie erhob sich, ging zum Fenster
und sah in die Nacht hinaus. Irgendwo dort draußen mußte
Alan sein. Vermutlich lag er unter einem Baum und schlief
seinen Rausch aus.
Oder aber er saß in irgendeiner Bar des Ortes und ersäufte
seine Wut im Alkohol.
Oder aber sie hatten ihn ins Medical Center eingeliefert.
Aber das war unwahrscheinlich. Denn dann hätte die
Nachtschwester bei ihr angerufen.
Sie schlüpfte in ihren Hausmantel und ging ins Erdgeschoß
des Hauses hinab. Sie überlegte, ob sie die Polizei rufen sollte.
Sie verwarf die Idee. Solange Alan nicht Auto fuhr, bestand
keine Gefahr.
Sie goß den Rest des Kaffees ins Spülbecken und füllte den
Filter mit frischem Kaffee.
Wenn Alan nach Hause kam, würde er einen Kaffee
brauchen.
Sie wollte die Kaffeemaschine anstellen, als sie das Gartentor klappen hörte. Erleichterung überkam sie.
Er war zurückgekommen.
Sie war sicher, daß sich jeden Augenblick die Tür öffnen
würde. Alan würde eintreten und sich bei ihr entschuldigen.
Aber nichts geschah.
Sie knipste die Kaffeemaschine an. Als die ersten braunen
Tropfen in die Kanne fielen, stand sie auf und ging zum
Hinterausgang des Hauses.
Sie öffnete die Tür. Eine Sekunde später wußte sie, was ihr
jetzt widerfahren würde, und sie wußte zugleich, daß sie dem,
was ihr bevorstand, nicht entrinnen konnte.
Alex warf einen Blick in die Runde. Er saß auf der Holzbank,
die in der Nähe der alten Eiche stand. In kurzer Entfernung war
das Rathaus von La Paloma zu erkennen. Maria Torres befand
sich auf dem Weg zum Friedhof.
Ein Gedanke durchzuckte ihn. Sie sieht wie eine Nonne aus.
Wie eine spanische Nonne.
Plötzlich merkte er, daß jemand ihm zuwinkte. Er winkte
zurück, obwohl er das Gesicht der Gestalt nicht erkennen
konnte.
Er fragte sich, wie er auf die Plaza gekommen war.
Er erinnerte sich, daß er in jenem Augenblick darüber
nachgedacht hatte, ob er als Kind auf der Eiche herumgeklettert
war, aber jetzt stand er nicht mehr vor dem Baum. Er befand
sich zwei Straßen weiter auf dem kleinen Platz.
Er fühlte sich erschöpft, als sei er eine längere Wegstrecke
bergauf gegangen.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war Viertel
nach drei. Merkwürdig. Vor wenigen Minuten war es erst halb
zwei gewesen.
Zwei Stunden waren vergangen. Zeit, an die er keine
Erinnerung hatte. Während er dem Elternhaus zustrebte, dachte
er über das Problem nach, das durch den Zeitunterschied
entstanden war. Er wußte, Zeit konnte nicht spurlos
verschwinden. Irgendwie mußte er eine Antwort auf die
beunruhigenden Fragen finden, die sein Ich erfüllten. Wenn er
lange genug darüber nachdachte, würde er herausfinden, was in
der Zeit, die ihm fehlte, passiert war. Er würde dann wissen,
warum er sich an die fehlenden Stunden nicht erinnerte.
Das Geräusch der Tür war zu hören. Marsh sah von der
medizinischen Fachzeitschrift auf, in der er gelesen hatte. Sein
Blick fiel auf Alex, der gerade die Küche betrat. »HU«
Alex blieb stehen und sah Marsh an. »Hu«, sagte er.
»Wo bist du gewesen?«
»Nirgends«, antwortete Alex.
Marsh lächelte. »Du gebrauchst die gleiche Ausrede, die ich
in deinem Alter auch immer verwendet habe.«
Alex verließ den Raum und ging die Treppe zum ersten
Stock hinauf. Seine Augen waren leer wie die eines Blinden.
Für Marsh waren die leeren Augen seines Sohnes Sinnbild
der Veränderungen, die sich infolge des Unfalls ergeben hatten.
Früher hatte Alex sehr lebendige Augen gehabt. Marsh hatte
immer mit einem einzigen Blick erkennen können, in welcher
Stimmung sich sein Sohn befand.
Jetzt aber waren die Augen wie ein schwarzer Spiegel. Wenn
Marsh seinen Sohn ansah, erblickte er sich selbst. Zuerst hatte
er geglaubt, Alex wollte ein Geheimnis vor ihm verbergen.
Inzwischen wußte er, es gab kein Geheimnis. Die
Persönlichkeit seines Sohnes war abgestumpft, das war alles.
Die Augen,
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