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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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meines Reittiers verlassen. Die Angst trieb mir alle anderen Gedanken aus dem Kopf, und erst als das Geräusch rauschenden Wassers in den Ohren zu einem Tosen anwuchs und der Weg auf ein breites, grasüberzogenes Sims an großen Felsen hinaufführte, bemerkte ich, dass auch die letzten Wachen zurückgeblieben waren. Eamonn half mir vom Pferd, und es kam mir so vor, als ließe er seine Hände ein wenig länger an meiner Taille, als unbedingt notwendig gewesen wäre.
    Das Geräusch des Wassers war überall, hallte von den Felswänden, trommelte in unseren Ohren, vibrierte im Boden, auf dem wir standen. Es war Gischt in der Luft, und alles schimmerte feucht.
    »Komm und sieh es dir an«, sagte Eamonn, und er musste laut sprechen, um sich über den Lärm des Wassers hinweg verständlich zu machen. »Hier drüben. Aber sei vorsichtig. Es ist glatt.«
    Wenn man auf einer bestimmten Stelle der glatten Steinfläche stand, direkt am Rand des geraden Bereichs, konnte man es sehen. Der obere Rand des Wasserfalls befand sich direkt vor und etwa eine Mannshöhe über uns. Man konnte sehen, wie ein wirbelnder Wasserschleier niederstürzte, tief nach unten in einen unsichtbaren Teich. An dem Steilhang wuchsen Farne und Moose und winzige andere Pflanzen, die sich aus jedem Riss herauszwängten. Ich starrte in die überfließende Flut und konnte nur an das Sims in der Klippe über der Honigwabe denken und daran, wie meine Mutter einen einzigen Schritt nach draußen getan hatte und dann gefallen war, immer tiefer durch die gnadenlose Luft, bis auf die Felsen und die tosende Brandung drunten. Ich dachte an Zauberei und den Trick, den ich mit der Glaskugel gelernt hatte. Abwärts. Halt. Jetzt langsamer. Niemand hatte Mutters Fall verlangsamt. Keine große Hand hatte sich ausgestreckt, um sie sanft aufzufangen und vorsichtig wieder auf den Boden zu setzen. Jetzt kommt deine zweite Chance, jetzt kannst du dein Leben noch einmal leben. Stattdessen hatte man ihr gestattet zu gehen. Vielleicht hatte sie ihren Zweck ja erfüllt. Das Spielzeug eines reichen Mannes zu sein. Meinem Vater das Herz zu brechen. Eine Tochter zur Welt zu bringen, die so verwirrt und unglücklich war wie sie selbst. Sobald das geschehen war, was zählte es noch, wenn ihr armer, schöner, zerbrechlicher Körper auf dem harten Felsen der Honigwabe zerbrach?
    »Fainne!«
    Vielleicht hatte ich die Augen geschlossen. Vielleicht hatte ich gewankt, oder mein verkrüppelter Fuß war ein wenig auf den glatten Steinen ausgerutscht. Als Eamonn meinen Namen rief, spürte ich auch schon seine Arme um meine Taille, wie er mich fest packte und rückwärts zog.
    »Vorsichtig«, sagte er scharf, und: »Jag mir nie wieder solche Angst ein!«
    Aber nun war ich diejenige, die Angst hatte. Denn er hatte mich nicht losgelassen, obwohl wir wieder sicher auf dem Grassims waren. Er hielt mich immer noch fest, und er war nah, so nah, dass ich die Wärme seines Körpers spüren und seinen Atem über das Geräusch des Wassers hinweg hören konnte.
    »Ich möchte dich nicht verlieren, nicht so bald, nachdem ich dich gefunden habe«, sagte er leise.
    »Ich – ich weiß nicht, was Ihr meint«, flüsterte ich. Ich wollte mich losreißen, wollte mich ihm entziehen. Aber ich hatte auch Angst, ihn gegen mich aufzubringen. Er drehte mich zu sich um.
    »Ich dachte – einen Augenblick lang dachte ich – nein, vergiss, was ich gesagt habe –«
    »Ihr dachtet, ich würde springen?«
    »Fallen vielleicht. Du bist heute unsicher auf den Beinen.«
    »Ich habe Euch doch gesagt, es ist nichts.«
    »Ich mache mir Gedanken, dass ich vielleicht zu viel von dir verlangt habe. Zeig mir diesen Fuß. Vielleicht können wir ein kleines Polster für den Stiefel improvisieren.«
    »Ich habe es Euch doch gesagt: Es ist keine Wunde. Mein Fuß ist verkrüppelt, das war er schon immer. Ich werde nie gerade gehen können.«
    »Zeig es mir.« Er nahm die Hände von meiner Taille und setzte sich auf die Felsen, verschränkte die Arme und sah mich ruhig an.
    »Ich …« Konnte ich ihm sagen, dass dies das Quälendste war, um was mich jemals jemand gebeten hatte? Wie konnte ich ihm erklären, wie sehr ich mich für diesen verformten Fuß schämte? Wenn Clodagh Recht hatte, war es das Zeichen eines Kindes, das nie hätte geboren werden dürfen. Und dieser Mann kannte mich kaum. Er verstand nichts.
    »Hast du Angst, Fainne?«, fragte Eamonn leise.
    »Ich habe keine Angst«, fauchte ich, und mit zitternden Händen schnürte

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