Das Kind des Schattens
Bruder geschlagen hatte. Damals hatte Vincent eines Nachts in ihrem gemeinsamen Zimmer nebenbei eine Bemerkung über die Bombardierung eines Zuges fallenlassen, die ihr Vater organisiert hatte.
»Woher weißt du das?« fragte Dave, der damals etwa zehn Jahre alt war. Noch immer konnte er sich daran erinnern, wie sein Herz gezuckt hatte.
»Der Vater hat es mir erzählt«, hatte Vincent ruhig geantwortet, »er hat mir viele von diesen Geschichten erzählt.« Vielleicht wusste Vincent auch jetzt, fünfzehn Jahre später noch immer nicht, warum ihn sein jüngerer Bruder so wütend angegriffen hatte.
Es war das erste und das einzige Mal in seinem ganzen Leben gewesen. Er sprang auf seinen kleineren, zarteren älteren Bruder los, verprügelte ihn und schrie, dass Vincent Lügen erzählt hatte.
Auf Vincents Schreie hin war Josef in den Raum gestürzt, verdeckte mit seinem großen Körper das Licht aus dem Gang, packte seinen jüngeren Sohn an einer Hand, hielt ihn in der Luft und bearbeitete ihn mit der offenen, fleischigen Innenseite der anderen Hand.
»Er ist kleiner als du!« hatte Josef gebrüllt. »Du darfst ihn niemals schlagen!«
Und Dave, der hilflos in der Luft hing und den Schlägen seines Vaters, die auf ihn niederregneten, nicht ausweichen konnte, hatte geweint und fast unzusammenhängend geschrien: »Aber ich bin kleiner als du!«
Daraufhin hatte Josef aufgehört. Er hatte seinen unbeholfenen Sohn, den kleinen Missetäter, auf dem Bett niedergesetzt, wo er zu weinen begann. Dann hatte er in beunruhigendem Ton gesagt: »Das ist wahr, das ist richtig.« War hinausgegangen und hatte die Schlafzimmertür geschlossen, so dass sie im Dunklen zurückblieben.
Dave hatte nichts davon verstanden und um ehrlich zu sein, begriff er auch jetzt nur einen Teil dessen, was in jener Nacht geschehen war. Er verfügte nicht über diese Gabe der Selbstbesinnung, und vielleicht absichtlich.
Er erinnerte sich, dass Vincent ihm die nächste Nacht anbot, ihm die Geschichte von der Bombardierung des Zuges zu erzählen, und dass er selbst ungeschickt, aber trotzig Vince befohlen hatte, seinen Mund zu halten.
Jetzt tat es ihm leid. Vieles tat ihm leid. Er vermutete, dass es die Ferne war, die das verursachte.
Während er noch so dachte, kroch er neben Levon auf den Hügel und blickte auf die Dunkelheit von Gwynir hinüber.
»Das ist nicht das klügste Ding, das ich in meinem Leben getan habe«, murmelte Levon. Die Worte drückten Bedauern aus, der Ton jedoch nicht.
Dave hörte an der Stimme von Ivors Sohn, dass er seine Aufregung kaum unterdrücken konnte, und fühlte in sich selbst eine unerwartete Aufwallung von Freude, die ihn über seine Angst erhob. Er war hier unter Freunden, unter Männern, die er mochte, die er tief verehrte, er teilte mit ihnen die Gefahr in einer Sache, die dieser Teilnahme würdig war. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, er fühlte sich intensiv lebendig.
Der Mond glitt wieder hinter eine dicke Wolkenbank. Der Umriss des Waldes wurde verschwommen und undeutlich. Levon fuhr fort: »Also gut. Ich werde euch führen. Folgt mir jeweils zu zweit. Ich glaube nicht, dass sie nach uns Ausschau halten … wenn es dort überhaupt etwas außer Bären und jagenden Katzen gibt. Ich werde auf die Senke in nordöstlicher Richtung zuhalten. Seid leise. Wenn der Mond hervorkommt, bleibt, wo ihr seid, bis er wieder verschwunden ist.«
Levon hob sich über den Hügel, arbeitete sich auf seinem Bauch voran und glitt über die offene Fläche dem Wald zu. Er bewegte sich so behutsam, dass das Gras sich kaum zu bewegen schien. Dave wartete einen Augenblick und begann dann, mit Mabon an seiner Seite vorwärts zu robben. Mit der Axt war das nicht einfach, aber er war nicht hierher gekommen, um an einer einfachen Sache teilzunehmen. Er fand seinen Rhythmus im Aufsetzen seiner Ellenbogen und Knie, zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, und hielt seinen Kopf nah am Boden. Zweimal blickte er auf, um sich seiner Richtung zu versichern, und ein einziges Mal glitt der abnehmende Mond kurz hinter den Wolken hervor und hielt sie im silbrigen Gras fest. Als er wieder verschwand, krochen sie weiter.
Genau an der Stelle, wo die Bäume dichter wurden, fanden sie die Senke, in der Levon schon auf sie wartete. Er kauerte eng am Boden, hielt einen Finger an die Lippen. Dave ließ sich auf ein Knie nieder, balancierte seine Axt, atmete vorsichtig und lauschte.
Nur Schweigen, abgesehen von den Nachtvögeln, dem Wind in
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